Europas „nekrophile Erwartung“

Drei Tage lang sprachen Intellektuelle aus allen Republiken Ex-Jugoslawiens über Ursachen und Hintergründe des Krieges in Bosnien-Herzegowina  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) – „Der bosnische Krieg – zur Genese eines Konfliktes in Europa.“ So nannten die Initiatoren vom Projekt „Bosnien-Hilfe“ an der Goethe- Universität in Frankfurt/Main ihre dreitägige politische Arbeitstagung zum Krieg auf dem Balkan mit Intellektuellen aus allen Republiken Ex-Jugoslawiens.

Wie Harry Bauer vom Projekt „Bosnien-Hilfe“ im Anschluß an die mehr als zwanzig Einzelvorträge von Wissenschaftlern der Universitäten von Zagreb, Ljubljana und Sarajevo sagte, habe die theoretische Auseinandersetzung mit den Ursachen und Hintergründen des schmutzigen Krieges in Bosnien-Herzegowina im Mittelpunkt der Arbeitstagung gestanden. Aber auch alleine die Tatsache, daß Intellektuelle aus Serbien und Montenegro, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Slowenien in Frankfurt miteinander reden konnten, werteten die Veranstalter als Erfolg. Das inhaltliche Fazit zogen dann auf einer Pressekonferenz der Philosoph Gajo Sekulić von der Universität Sarajevo und sein Kollege Gwozden Flego von der Universität Zagreb, die sich enttäuscht darüber zeigten, daß die deutschen Professoren der einschlägigen Disziplinen offenbar kein Interesse an der Arbeitstagung zeigten: „Eine große Schande!“

„Schandbar“ nannten beide Philosophen auch das Verhältnis der europäischen Staaten und der UNO zum „Horror- und Terrorkrieg“ in Bosnien-Herzegowina – eine „nekrophile Erwartungspolitik“ (Flego). Die TagungsteilnehmerInnen, so Sekulić, hätten übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß eine weitere Fortsetzung des „extremistischen Krieges“ das Ende aller zivilisatorischen Werte impliziere. Für Sekulić ist deshalb klar, daß erst nach Beendigung des Krieges Verhandlungen über eine neue Friedensordnung geführt werden könnten. Bis heute hätten es gerade die Europäer – „zu viele Lords“ (Sekulić) – durch „Zu- und Wegschauen“ hingenommen, daß durch die „Zäsur auf dem Balkan“ in Europa zwei unterschiedliche „Formen“ menschlichen Lebens entstanden seien: „Die Menschen, die ein normales Leben führen können. Und die Menschen, die täglich vom Tod umgeben sind.“

Daß sich auch in Serbien mit der Ideologie vom ethnischen Nationalismus „unerträgliche Verhältnisse“ etabliert hätten, darüber hatte zuvor der Ethnologe Ivan Colović vom oppositionellen Belgrader Kreis referiert. Als „auserwähltes himmlisches Volk“ würden sich die Serben bereits selbst sehen. Colović: „Es findet eine Rekonstruktion der Mythen statt – mit Parallelen zum deutschen und italienischen Faschismus.“