Eine Amerikanerin in Berlin

Meine Freunde aus dem ehemaligen West-Berlin verdienen eine Entschuldigung. Gestern schrieb ich recht ausführlich über das großartige Schloß aus dem 18. Jahrhundert im ehemaligen Ost-Berlin — oder jedenfalls seine Fassade —, ohne das im Westen auch nur zu erwähnen. Der Tadel trifft mich zurecht. Schloß Bellevue genießt meine tiefste Bewunderung. Ich bewundere seine Form, seine Proportionen und vor allem seine Größe. Da Berlin nun mit einem Präsidentensitz prunkt, der größer ist als das Weiße Haus, kann ich also sagen, daß die Vereinigten Staaten auch einmal weniger auffällig daherkommen als andere.

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Zu diesem Zeitpunkt der Berlinale hört man am häufigsten die Frage, ob man schon gute Filme gesehen hat — als glaubten die Besucher, bei fünf Vorführungen am Tag wäre ihnen vielleicht etwas entgangen. Für mich war der bisher beste Film die Pressekonferenz von Tom Hanks. Was immer man von seinem Film „Philadelphia“ halten mag: die Pressekonferenz war besser. Den drei Leuten in Berlin, die sie live oder im Fernsehen verpaßt haben, liefere ich zur Begründung meiner Ansicht diese Ausschnitte:

Auf die Frage, wie er sich auf die Rolle eines Mannes vorbereitet habe, der an Aids stirbt, sagte Hanks all die richtigen Worte und dann: „Spencer Tracy, ein guter Freund von mir, hat mir gesagt, der Schauspieler müsse den Punkt treffen und seine Geschichte erzählen.“ Auf die Frage, warum Hollywood bisher noch keinen Aids-Film gemacht habe: „Die Geschichte lautet: Man bekommt Aids und stirbt. Das kann mit Geschichten wie ,Mrs. Doubtfire‘ und ,Free Willy‘ nicht mithalten.“

Als man ihm die Frage stellte, ob ein Kuß zwischen ihm und seinem Film-Liebhaber (Antonio Banderas) aus dem Film geschnitten worden sei, antwortete er: „Joanathan (Demme, der Regisseur) kam eines Tages rein und sagte: ,Beginnen wir diese Szene mit einem dicken Schmatz auf die Lippen‘, und das führte zu langen Diskussionen über das Publikum und den Kuß. Wir glaubten, wenn wir ihn drinlassen, würde das Publikum die ganze Zeit drauf warten, und wenn er dann käme, würde die eine Hälfte sagen: ,Herrgott, sie haben sich geküßt. Ekelhaft‘, und die andere Hälfte: ,Herrgott, sie haben sich endlich geküßt. Wunderbar.‘ Aber fürs Protokoll: Einmal im Film gebe ich Banderas einen Kuß. Wenn es eine Fortsetzung von ,Philadelphia‘ gibt, kommt es ganz bestimmt wieder rein.“

Auf die Frage, wie wichtig ihm die Oscar-Nominierung für „Philadelphia“ sei, meinte er: „Die Oscars sind ein Weltereignis, da würde ich auch als Parkplatzwächter hingehen.“

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Thelma und Louise leben — wieder. Ich berichtete von dieser Wiederauferstehung in meinen Bemerkungen zu „Pas tres Catholique“, einem der französischen Filme im Wettbewerb. Aber dem Plakat zu „Out of Sight“, einem amerikanischen Dokumentarfilm, entnehme ich, daß mich noch eine erwartet. Filmemacher David Sutherland erzählte mir, der Film habe bei seiner Vorführung in Boston das drittbeste Einspielergebnis nach „Schindlers Liste“ und dem „Piano“ erzielt.

Diane Starin, mit der sich der Film befaßt, ist eine blinde Frau aus den 30er Jahren, die auf die Universität geht, in Kalifornien Pferde züchtet, ehrenamtlich in Organisationen zur Unterstützung blinder Kinder mitarbeitet, gern zu Parties geht und sich mit ihrem Aussehen genau so intensiv beschäftigt wie die Kosmetiker für Geena Davis und Susan Sarandon. Sie hat sich außerdem auf eine üble Beziehung mit einem Mann eingelassen, einem Quartalssäufer, den sie aber nicht verlassen kann. Sie kompensiert das, indem sie mit anderen Kerlen ins Bett geht. Moral der Geschichte: Auch sehr tapfere Frauen können Dummheiten machen, wenn Männer ins Spiel kommen.

Sutherland verdient ein Kompliment, weil er dem üblichen Drang widerstand, die Blinden zu bemitleiden oder von ihrem heroischen Ringen um Unabhängigkeit zu sülzen. Starin hat außergewöhnliche Dinge getan, aber der Film tut gut daran, sie schlicht zu erwähnen und sich dann auf das zu konzentrieren, was in Starins Leben im Mittelpunkt steht: Sex, Liebe, Verlust. Aber das ist nicht der interessanteste Aspekt an „Out of Sight“. Sutherland hat in Schwarzweiß-Bildern Szenen aus Starins Vergangenheit nachgestellt, die er auf die Leinwand bringt, während sie aus dem Off davon erzählt. Daß sie nachgestellt sind, erfährt man erst aus dem Abspann, so daß der Zuschauer die ganze Zeit über die Unmöglichkeit dieser Szenen nachdenkt. Zusammen mit einigen unglaubwürdigen Interviews lenkt dieser unnötige Kunstgriff mehr als nur ein bißchen von der Geschichte ab. Vielleicht sollte jemand Sutherland sagen, daß Sehende sich nicht alles zeigen lassen müssen. Oder jedenfalls sehfähige Frauen. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning