Nur noch schlimmer

■ Der ungarische Regisseur Béla Tarr über kapitalistische Metaphysik, das Ende der Utopien und seinen siebeneinhalbstündigen Film „Satanstango“ im Forum

taz: Sie haben nach dem Abitur zwei Jahre als Hilfsarbeiter auf einer Schiffswerft gearbeitet, danach als Portier in einem Kulturhaus. Erst dann haben Sie sich entschieden, die Filmakademie zu besuchen. Wie sind Sie über die verschiedenen Brüche in Ihrem Leben hinweggekommen?

Béla Tarr: Diese Entscheidungen waren für mich keine Brüche, sondern ein Prozeß. Ich wollte nach dem Abitur arbeiten und so die Leute kennenlernen. Das war eine jugendliche Entscheidung, als Hilfsarbeiter anzufangen.

Sie haben schon mit 16 Jahren Amateurfilme gedreht. Worum ging es in diesen Filmen?

Das waren Dokumentar- und Experimentalfilme, sie handelten vom Schicksal einfacher Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen.

Ihr erster Film „Familiennest“ rückt jene Menschen in den Mittelpunkt, die in der Gesellschaft keine Chance haben.

Die Ausgestoßenen haben mich von Anfang an interessiert. Genauer gesagt, „Familiennest“ ist entstanden, als ich mit einer Super- 8-Kamera filmen wollte, wie eine Arbeiterin von der Polizei aus ihrer Wohnung geschmissen wird. Ich wurde deswegen sogar vorübergehend verhaftet. Als ich zum Béla-Balázs-Studio kam, habe ich für diese Idee Geld beantragt. Das war die Vorgeschichte für „Familiennest“.

Wann entstand die Idee, den Roman „Satanstango“ von László Krasznahorkai zu verfilmen?

Nach dem „Herbstalmanach“ hat mir ein Literaturhistoriker von einem Manuskript erzählt, das er gerade gelesen habe. Ich las es auch und wollte sofort einen Film daraus machen.

Wegen der durchgehenden Verzweiflung?

Bei László Krasznahorkai ist interessant, daß er alles, was uns geschieht, in eine kosmische Dimension bringt. Das interessiert mich auch am Filmemachen.

Religiosität spielt in Ihren Filmen eine wichtige Rolle. Die Garderobenfrau in „Verdammnis“ zitiert aus dem Alten Testament, und der Maler in „Der Außenseiter“ spricht von der „Tragödie des Menschen“.

Für jeden Menschen ist es eine entscheidende Frage, ob es die Hölle überhaupt gibt, ob es Religion gibt.

Soll man weitermachen oder sich gleich umbringen?

In Ungarn leben jetzt sehr viele Menschen an der Grenze. Es gibt momentan eine sehr harte Situation. Es kann nur noch schlimmer werden. (lacht) Es ist wie in England im 19. Jahrhundert, als dort massenhaft Geld akkumuliert wurde. Wir erleben den Urkapitalismus, wie ihn Charles Dickens beschrieben hat.

„Satanstango“ vermittelt völlige Apathie. Haben sich die Utopien in Europa verbraucht?

Wenn man überhaupt Filme macht, gibt es auch die Hoffnung, daß sich diesen Film jemand ansehen wird. Schon das ist grenzenloser Optimismus. Wenn ich an die Apathie glaubte, würde ich keine Filme machen. Ich habe den Zusammenbruch des Sozialismus in Berlin erlebt. Als ich nach Hause kam, habe ich sofort mit der Arbeit am „Satanstango“ begonnen.

Und die Zukunft bietet wenig Hoffnung.

Es gibt keine Zukunft im Alltag. Es gibt nur die nächste Woche.

Andrej Tarkowskij hat sich durch den Glauben gerettet. Wie retten Sie sich?

Indem ich den nächsten Film mache.

Also von einer Verzweiflung in die nächste?

Genau.

Interview: Klaus Dermutz

Béla Tarr: „Sátántangó“ (Satanstango), Ungarn 1991–93, 450 Minuten.