Die Bundesrepublik: Eine Insel der Seligen?

Die Europäische Union reißt immer mehr Kompetenzen in der Umweltpolitik an sich. Werden dadurch die Umweltstandards im Möchtegern-Musterland Deutschland gehoben oder gesenkt?  ■ Von Nicola Liebert

Berlin (taz) – Vom Verpackungsrecycling bis zum Klimaschutz, von der Genmanipulation bis zum Zugang zu Umweltinformationen: die Europäische Gemeinschaft regelt immer mehr Bereiche der Umweltpolitik. Bei vielen Bundesbürgern entsteht da der Verdacht, dies könnte zu einer Senkung der hiesigen Umweltstandards führen. Wenn sich das umweltpolitische Möchtegern-Musterland BRD mit Ländern wie Spanien oder Griechenland auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bei den Umweltschutznormen einigen muß, könnte für uns doch nur eine Verschlechterung herauskommen. Um so mehr, da die EU ja keinesfalls eine Gemeinschaft zur Pflege der Umwelt ist.

Die EU kennt zunächst nur eine raison d'être: die Förderung der Wirtschaft. Und diese gerät oft genug in Kollision mit Umweltbelangen. Seit 1987 ist zwar der Schutz der Umwelt offiziell ein eigenständiges Ziel gemeinschaftlicher Politik. Dennoch, die meisten Aktivitäten der Union schaden der Umwelt eher, als daß sie ihr nützen.

Die hochsubventionierte Intensivlandwirtschaft Europas, in die fast zwei Drittel des EU-Haushalts fließen, schert sich um die Umwelt bekanntlich einen Dreck. Der größte Teil des verbleibenden EU- Etats geht in die Förderung benachteiligter Regionen. Mit Vorliebe werden mit diesem Geld Straßen gebaut – derzeit beispielsweise Tausende Autobahnkilometer in Spanien.

Die Schaffung des einheitlichen Binnenmarktes führt zwangsläufig zu einer Zunahme von Transporten quer durch den Kontinent. Das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie hat ausgerechnet, daß die Bestandteile eines Erdbeerjoghurts – vom Aluminiumdeckel bis zu den Früchten – zusammen fast 7.700 Kilometer zurücklegen, bevor sie zum Verbraucher gelangen.

Eine von der EG-Kommission bestellte Expertengruppe berechnete, daß bis zum Jahr 2010 der Straßenverkehr um 77 Prozent zunehmen wird, der Flugverkehr wird sich mehr als verdoppeln – und das Ziel, die Emissionen des Treibhausgases CO2 zu vermindern, rückt in weite Ferne. Die geplante europaweite Energie- beziehungsweise CO2-Steuer ist bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vom Tisch, zerredet von den Mitgliedsstaaten, die nun auf einmal erneuten Forschungsbedarf zu diesem Thema sehen.

Die Deutschen sind keine Umwelteuropameister

Ist die Bundesrepublik in puncto Umweltschutz eine Art Insel der Seligen in einem umweltfeindlichen Europa, bedroht durch die Brüsseler Bürokraten? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht, zu vielfältig sind die umweltpolitischen Eingriffe durch die EU. Insgesamt stünde den Deutschen aber etwas mehr Bescheidenheit gut an, ist doch die BRD durchaus nicht immer Europameisterin im Umweltschutz.

Das Thema Verpackungsrichtlinie ist ein typisches Beispiel, wo anscheinend die EU deutsche Umweltstandards senkt. In diesem Fall geht es um die Frage, ob die BRD ihre Verpackungsverordnung mit den vergleichsweise hohen Recyclinganforderungen beibehalten kann. Die EU-Kommission hat einen Richtlinienentwurf vorgelegt, in dem ausgesprochen niedrige Mindest-Recyclingquoten und obendrein Höchstquoten für Recycling vorgeschrieben werden – auf den ersten Blick ein Skandal.

Doch gerade hier hat die Aufregung von Umweltminister Töpfer, mit der der deutsche Saubermann in Brüssel auf den Tisch haute, verlogene Züge. Bislang werden nämlich große Teile des in Deutschland gesammelten Verpackungsmülls mit dem Grünen Punkt schlicht exportiert, oft legal, manchmal illegal. Die Sekundärrohstoffmärkte in anderen europäischen Ländern werden durch die Dumpinglieferungen aus Deutschland zerstört. Verständlich, daß die betroffenen EU-Länder dies unterbinden wollen. Doch werden dadurch mitnichten die Deutschen gezwungen, jetzt das Recycling von Verpackungen einzustellen. Solange Verwertungskapazitäten im Inland nachgewiesen werden, können sie das bisherige Niveau beibehalten.

Vor allem was die Information und Beteiligung der Öffentlichkeit in Umweltfragen anbelangt, bewegte sich die Bundesregierung oft erst auf Zwang aus Brüssel. Dies war der Fall bei der obligatorischen Umweltverträglichkeitsprüfung von Bau- und Investitionsvorhaben, die mit der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit am Genehmigungsverfahren einhergeht. Auch den von der EU beschlossenen freien Zugang zu Umweltinformationen regelten die Bonner erst Monate nachdem die Frist für die Verabschiedung eines entsprechenden nationalen Gesetzes abgelaufen war.

Rund dreißigmal wurde die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil sie gegen EU-Regelungen verstieß, vor allem gegen die Trinkwassernormen, oder weil sie EU- Richtlinien nicht rechtzeitig in nationales Recht umsetzte. Derzeit fallen die Bonner in Brüssel unangenehm auf, weil sie sich mit Händen und Füßen gegen eine europaweite Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen stemmen. Die Umweltpolitik der Union ist also mitnichten immer und von vornherein ein Rückschritt gegenüber hiesigen Standards.

Bloß nicht gegen den Wettbewerb verstoßen

Zum Start des Binnenmarkts betonten die EU-Kommissare, wie wichtig sie inzwischen den Umweltschutz nehmen, daß sie ihn sogar als eine Voraussetzung für weitere industrielle Expansion sehen. Aber erstens ist immer noch das industrielle Wachstum selbst das Hauptziel, und zweitens schoben die Kommissare gleich hinterher, daß die Umweltschutzmaßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten natürlich unter keinen Umständen den Binnenmarkt gefährden dürfen.

Denn das ist der eherne Grundsatz der EU: Gegen den Wettbewerb darf keinesfalls verstoßen werden. Viele umweltrelevante Richtlinien basieren auf dem Artikel 100 a des EWG-Vertrages, dessen Ziel der Abbau von Handelshemmnissen und die Harmonisierung des Binnenmarkts ist. Vereinfacht gesagt heißt das: Die Regierung eines EU-Staates darf Produkten eines anderen Landes nicht den Zugang zum Markt verwehren, selbst wenn sie diese für umweltschädlich hält. Wenn ein Mitgliedsland strengere Grenzwerte oder Zulassungskriterien anwenden will als in der europäischen Richtlinie festgelegt, wenn ein Produkt gar im Alleingang verboten werden soll, so geht das nur im Ausnahmefall und mit ausdrücklicher Genehmigung durch die Kommission.

Dabei können die Kommissare ihre Richtlinienentwürfe aber auch auf Grundlage eines anderen Paragraphen formulieren, des Umweltartikels 130 r bis t. Der Vertragstext läßt den einzelnen Regierungen erheblich größere Spielräume, „verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen“. Doch gerade bei wichtigen Umweltfragen wird häufig der Binnenmarktparagraph 100 a zugrunde gelegt. Die Freisetzung von genmanipulierten Organismen etwa, die Recyclingquoten für Verpackungsabfälle oder die Genehmigung von Bioziden wie Insektensprays und Holzschutzmitteln – all das sind Regelungen, bei denen die EU lediglich um den ungehinderten Handel mit Giften und Müll besorgt ist, nicht um deren mögliche Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit. Den Mitgliedstaaten lassen diese Regelungen keinen Spielraum.

Eine der seltenen Ausnahmen von dieser Regel ist das Pentachlorphenol (PCP). Seit dem Holzschutzmittelskandal als Supergift identifiziert, ist es in der Bundesrepublik, anders als in der restlichen Union, generell verboten – mit ausdrücklicher Erlaubnis der EU- Kommission. Vor allem französische Chemiekonzerne stellen aber noch PCP-haltige Mittel her und würden diese gern über den Rhein exportieren. In den kommenden Wochen muß nun der Europäische Gerichtshof entscheiden, ob die Bundesregierung bei ihrem PCP- Verbot bleiben darf oder ob damit die französischen Holzschutzmittelhersteller auf dem deutschen Markt in unzulässiger Weise diskriminiert werden.

Immerhin haben die obersten Europa-Richter in letzter Zeit erkennen lassen, daß sie nicht mehr zwangsläufig die Ökonomie über die Ökologie stellen. Das zeigte das Urteil über das dänische Verbot von Einwegbierflaschen und -dosen. Obwohl sich dadurch ausländische Bierbrauer, die ihr Bier partout in Dosen verkaufen wollen, diskriminiert fühlten, durften die Dänen bei dem Verbot bleiben.

Die EU als Sündenbock

Die SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt meint sogar: „Die EU wird oft genug nur als Sündenbock genommen, wenn in einzelnen Ländern Umweltschutzstandards heruntergeschraubt werden.“ Ein Beispiel, wo sich etwa die Bundesregierung hinter der EU versteckt, ist das hierzulande verbotene Pestizid Atrazin, das das Grundwasser gefährdet.

In der EU wird zur Zeit überlegt, dieses Gift wieder zuzulassen – eine Regelung, der sich die Bundesrepublik dann beugen müßte, weil im Agrarbereich keine nationalen Alleingänge vorgesehen sind. Schon stimmen manche Umweltschützer ein Gejammer über die böse EU an, die die deutsche Umwelt ruiniere. Die Annahme, die Brüsseler Bürokraten hätten diese Verschlechterung von Umweltstandards allein zu verantworten, ist aber schlicht falsch. Denn es sind die Regierungen der Mitgliedstaaten, die selbst, die Lobbyisten von Bauernverbänden und Chemiekonzernen im Rücken, das Atrazin zulassen wollen. Auch die Deutschen, vertreten durch Landwirtschaftsminister Borchert, machten sich nicht für das Atrazin- Verbot stark. Umweltpolitisches Musterland Deutschland?

„Wenn eine Regierung wirklich bei einem besonders hohen Schutzniveau bleiben will, so kann sie das im allgemeinen durchsetzen“ und es notfalls auf eine Auseinandersetzung vor dem Europäischen Gerichtshof ankommen lassen, meint Ludwig Kraemer von der Brüsseler Generaldirektion Umwelt. Bei der Verpackungsrichtlinie habe Umweltminister Töpfer ja auch die hohen deutschen Recyclingquoten durchsetzen können; er muß nur Verwertungskapazitäten im Inland nachweisen.

Doch so einfach ist es auch wieder nicht. Es gibt durchaus Fälle, wo die EU ein Mitgliedsland zur Senkung seiner Umweltschutzstandards zwingt. Dänemark mußte so sein Moratorium für Freilandversuche mit genmanipulierten Organismen aufgeben. Ob die Dänen bei ihrem Einwegverbot bleiben können, wird wohl auch erneut in Frage gestellt, wenn die europäische Verpackungsrichtlinie verabschiedet ist.

Beitrittskandidaten zur EU wie Schweden oder Österreich mußten strenge nationale Regelungen bei den Beitrittsverhandlungen mühsam verteidigen, etwa ihr Verbot von PCP. Doch gelang das nicht immer, zum Beispiel darf Schweden als EU-Mitglied nicht länger Steuervorteile für die Anschaffung besonders schadstoffarmer Autos gewähren.

Und wie entwickelt sich die europäische Umweltpolitik in der Ära des Binnenmarktes? Die Grünen-Europaabgeordnete Hiltrud Breyer sieht da schwarz. Sie konstatiert derzeit sogar ein umweltpolitisches Rollback in Brüssel. Einige recht strenge EU-Normen, etwa die zulässige Schadstoffbelastung von Trink- und Oberflächenwasser, sind auf Druck seitens der Industrie – auch ganz besonders der deutschen Industrie – von einer Aufweichung bedroht. Die Hersteller von Agrochemikalien möchten erreichen, daß für jedes Unkraut- und Schädlingsbekämpfungsmittel ein eigener Grenzwert festgelegt wird. Bei der enormen Anzahl von Pestiziden könnte dann die Gesamtbelastung des Wassers fast beliebig hoch sein.

Kommt ein umwelt- politisches Rollback?

Neue Regelungen, wie die geplante Verpackungsrichtlinie mit ihren fast lächerlich niedrigen Recyclinganforderungen oder die Richtlinien über die Zulassung von Bioziden und über die Freisetzung von genmanipulierten Lebewesen werden ähnlich industriefreundlich gestaltet. Kein Wunder: Den 11.000 Brüsseler Beamten stehen fast genauso viele Industrie-Lobbyisten gegenüber, wie Gudrun Lammers, Mitarbeiterin des EU- Büros von Greenpeace, bemerkt. Oft genug verfassen diese die Entwürfe und Begründungen für Richtlinien gleich selbst. Die Zahl der Umwelt-Lobbyisten betrage dagegen gerade mal 30 bis 40.

Doch dieser umweltpolitischen Klimaverschlechterung stehen Verbesserungen entgegen, die der Vertrag von Maastricht gebracht hat. So gilt im Rat jetzt nicht mehr das Prinzip der Einstimmigkeit, so daß Umweltinitiativen nicht mehr von einem einzigen Land blockiert werden können. Viel wichtiger noch ist, daß das Europäische Parlament seither mehr Mitspracherechte hat. Wenn im Parlament ein Richtlinienentwurf abgelehnt wird, kann sich der Ministerrat jetzt nicht mehr wie früher einfach darüber hinwegsetzen; das Ganze geht vor einen Vermittlungsausschuß. Die Euro-Parlamentarier sind traditionell viel fortschrittlicher und auch umweltbewußter als die Kommissare und die Regierungsvertreter im Rat. Viel wird nun davon abhängen, inwieweit es den Europaabgeordneten gelingt, ein umweltpolitisches Rollback zu verhindern.

Bedenklich ist jedoch die Tendenz, daß die Eurokraten immer mehr Abstand vom Vorsorgeprinzip im Umweltschutz nehmen. Bei künftigen Regelungen legen sie zunehmend nur noch bestimmte Qualitätsziele für Luft, Wasser und Boden fest, so etwa bei der geplanten Richtlinie zur Genehmigung von Industrieanlagen (schönfärberisch „Richtlinie zur integrierten Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung“ genannt). Es klingt erst mal gut, daß eine maximal zulässige Schadstoffbelastung für alle Umweltmedien festgelegt wird.

Doch worauf läuft das hinaus? Wenn in einer Gegend viele Fabriken Luft, Wasser und Boden verpesten, muß jeder einzelne Betrieb relativ sauber sein, damit die Grenzwerte eingehalten werden können. Wo aber nur ein Schlot allein auf weiter Flur steht, da darf diese eine Fabrik nach Lust und Laune stinken und rußen, denn die Umwelt in der Umgebung verkraftet ja noch einiges. Hierzulande gilt dagegen noch: Anlagen müssen nach dem jeweils neuesten Stand der Technik ausgerüstet werden, um Verschmutzungen zu minimieren – egal wie sauber oder dreckig die Umgebung ist.

In welche Richtung sich die europäische Umweltpolitik entwickelt, erklärt Jan Bongaerts, Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik. Er meint, daß die EU einerseits immer mehr Umweltpolitikfelder belegen wird. Doch die Vorgaben werden andererseits weniger konkret. Wie sie die einzelnen Anforderungen erfüllen, bleibt den Mitgliedsländern überlassen. Dieses sogenannte Subsidiaritätsprinzip ist die neue Leitlinie der europäischen Politik seit Maastricht. Wer auf nationaler Ebene mehr für den Schutz der Umwelt machen möchte, wird nicht daran gehindert – sofern er beweisen kann, daß der Handel mit den anderen EU-Ländern nicht leidet. Wer unter den Mindestanforderungen bleibt, kann dies ebenfalls ungestraft tun, weil der EU-Kommission Sanktionsmöglichkeiten fehlen.