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Zwei Winde, ein Sturm und eine Prophezeiung

Der Sprecher der zapatistischen Indianerbewegung Mexikos spielt in einem 1992 geschriebenen Text Reiseführer und erzählt Geschichten aus Chiapas. Eine andere Beschreibung der Ursachen des Januar-Aufstandes  ■ Von Subcomandante „Marcos“

Der erste Wind, der von oben

... und der erzählt, wie eine Regierung ihr Herz für das indianische Elend in Chiapas entdeckt und der Region freundlicherweise Hotels, Gefängnisse, Kasernen und einen Militärflughafen beschert; und wie die Bestie sich vom Blut dieses Volkes ernährt und von anderen unglückseligen Vorkommnissen.

Nehmen wir mal an, Sie wohnen im Norden, Zentrum oder im Westen des Landes. Und nehmen wir weiter an, daß Sie sich nach dem traditionellen Satz des Tourismusministeriums richten, der da besagt: „Lernen Sie zuerst mal Mexiko kennen!“ Nehmen wir also an, Sie hätten sich entschieden, den Südosten des Landes kennenzulernen und daß Sie sich dazu den Bundesstaat Chiapas ausgesucht hätten. Gehen wir weiter davon aus, Sie wählen den Landweg (auf dem Luftweg nach Chiapas zu reisen ist nicht nur teuer, sondern auch unwahrscheinlich: es gibt nur zwei „zivile“ und einen militärischen Flughafen). Nehmen wir an, Sie fahren die Autobahn Transistmica runter. Und dabei beachten Sie diese Kaserne nicht weiter, die ein Artillerieregiment der Bundesarmee auf der Höhe von Matias Romero unterhält, und Sie fahren weiter bis La Ventosa. Und nehmen wir an, daß Sie auch diesem Wachhäuschen der Einwanderungsbehörde – das so aussieht, als ob man ein Land verlassen und in ein anderes einreisen würde – keine Aufmerksamkeit schenken. Ein paar Kilometer weiter lassen Sie Oaxaca hinter sich und stoßen auf ein großes Schild „Willkommen in Chiapas“. Gefunden? Wir gehen einfach mal davon aus.

Sie sind also über eine der drei Autobahnen gekommen, die in den Bundesstaat hineinführen: über den Norden, über die Pazifikküste und über diese Straße, von der wir mal annehmen wollen, daß Sie sie gewählt haben, gelangt man vom Rest des Landes in diesen südöstlichen Zipfel. Aber der Reichtum fließt aus der Region längst nicht nur über diese drei Autobahnen heraus. Über tausend verschiedene Wege blutet Chiapas aus: über die Öl- und Gasleitungen, über die Stromnetze, über die Eisenbahnwaggons, über die Bankkonten, über Busse und Lastwagen, über Schiffe, Flugzeuge und auch über geheime Schleichwege.

Dieses Land zahlt weiterhin seinen Tribut an die Imperien: Öl, Strom, Vieh, Geld, Kaffee, Bananen, Honig, Mais, Kakao, Tabak, Zucker, Soya, Sorghum, Melonen, Mamey, Mango, Tamarindo, Avocado. Und chiapanekisches Blut, das über die tausendundeinen Plünderzähne hinausfließt, die an dem Hals des südöstlichen Mexikos saugen. Eine Handvoll von Kaufleuten, unter ihnen der mexikanische Staat, holen aus Chiapas all seinen Reichtum und hinterlassen nur ihre tödliche und verpestete Spur.

In chiapanekischem Land stecken 86 Pemex-Fördertürme1, die jeden Tag 92.000 Fässer Erdöl und 19 Milliarden Kubikmeter Gas aus der Erde saugen. Und die Bestie ist noch nicht zufrieden und streckt ihre Saugnäpfe nach dem Lacandonischen Regenwald aus: dort schürft man zur Zeit an acht verschiedenen Ölquellen. Die Schneisen werden mit Macheten geschlagen, von denselben Campesinos, die dank der unersättlichen Bestie ihr Land verloren haben. Es fallen die Bäume, und es dröhnen die Dynamitexplosionen genau in den Gebieten, in denen es nur den Bauern verboten ist, die Bäume zu fällen, um Platz zum Säen zu schaffen. Jeder gefällte Baum kostet sie eine Strafgebühr von zehn Mindestlöhnen und Gefängnis. Der Arme kann also keine Bäume fällen, die Erdölbestie dagegen schon.

Und auch über den Kaffee blutet Chiapas aus. 35 Prozent der nationalen Kaffeeproduktion kommt aus diesem Teil des Landes, 87.000 Menschen sind im Kaffeeanbau beschäftigt. 47 Prozent gelangt auf den nationalen Markt und 53 Prozent wird im Ausland abgesetzt, vor allem in den USA und in Europa. Mehr als 100.000 Tonnen Kaffee fließen jährlich aus dem chiapanekischen Land, um die Bankkonten der Bestie zu füllen: im Jahr 1988 wurde der Pergamino-Kaffee2 im Ausland für durchschnittlich 8.000 Pesos verkauft, während dem chiapanekischen Produzenten nur 2.500 Pesos bezahlt wurden3.

Die zweitgrößte Plünderung findet bei der Viehzucht statt. Drei Millionen Kühe warten auf die berüchtigten „Koyoten“4, um die Kühltruhen der Städte Arraiga, Villahermosa und der Bundeshauptstadt zu füllen. An die verarmten Ejido-Bauern werden für die Kühe 1.400 Pesos pro Kilo bezahlt, beim Wiederverkauf verzehnfachen die Zwischenhändler dann den gezahlten Preis.

Rund 55 Prozent der gesamten aus Wasserkraft gewonnenen Energie wird in diesem Bundesstaat produziert und 20 Prozent der nationalen Stromversorgung. Dennoch verfügt nur ein Drittel der chiapanekischen Haushalte über einen eigenen Stromanschluß.

Wohin gehen also die über zwölf Milliarden Megawatt, die jährlich von den Wasserkraftwerken erzeugt werden? Und trotz der ökologischen Mode geht die Holzplünderung in den chiapanekischen Wäldern immer weiter. Zwischen 1981 und 1989 wurden aus Chiapas 2.444.700 Kubiktonnen Edel-, Nadel- und gewöhnliche Tropenhölzer herausgeholt.

Und was hinterläßt die Bestie?

In Chiapas befinden sich 40 Prozent der Pflanzenvielfalt, 36 Prozent der Säugetiere, 34 Prozent der Amphibien und Reptilien, 66 Prozent der Vögel, 20 Prozent der Süßwasserfische und 80 Prozent der Schmetterlinge des Landes. Aber der größte Reichtum des Bundesstaates sind die 3,5 Millionen Chiapaneken, von denen zwei Drittel auf dem Land leben – oder auch sterben. Die Hälfte aller Chiapaneken hat kein Trinkwasser und zwei Drittel kein Abwassersystem. 90 Prozent der chiapanekischen Landbevölkerung verfügt über keine oder nur minimalste Geldeinkommen.

Die Bildung? Die schlechteste im ganzen Land. In der Grundschule gehen 72 von 100 Kindern im ersten Jahr ab. Mehr als die Hälfte aller Schulen bietet sowieso nicht mehr als drei Schuljahre, und 50 Prozent verfügen nur über einen Lehrer für alle Fächer. Es gibt hohe Dunkelziffern über die Abbruchquote unter indianischen Kindern. In jedem beliebigen indianischen Dorf sieht man in der Zeit des Schulunterrichts Kinder, die Holz oder Mais schleppen, kochen oder Wäsche waschen. Von den 16.058 Schulräumen, die es im Jahre 1989 gab, befanden sich nur 1.096 in mehrheitlich indianisch bewohnten Gebieten.

Industrie? Wollen wir mal sehen: 40 Prozent der chiapanekischen „Industrie“ besteht aus Maismehl-Mühlen, der Herstellung von Tortillas und Holzmöbeln. Nur 0,2 Prozent sind Großunternehmen in den Bereichen Erdöl und Elektrizität. Die 0,4 Prozent an mittleren Industrien sind Zuckerfabriken, Fisch- und Meerestiereverarbeitung oder Fabriken, in denen Mehl, Kalk, Milch und Kaffee verarbeitet wird. 94,8 Prozent aller Betriebe gehören zur Mikroindustrie.

Die Gesundheit der Chiapaneken ist ein klares Beispiel für die kapitalistische Spur: 1,5 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu Einrichtungen des Gesundheitssystems. Für 1.000 Bewohner gibt es genau 0,2 Arztpraxen; der nationale Durchschnitt liegt fünfmal höher. Es gibt außerdem 0,3 Krankenhausbetten für 1.000 Chiapaneken und einen ganzen Chirurgen für 100.000 Menschen. 1.000 Menschen müssen sich einen halben Arzt und 0,4 Krankenschwestern teilen.

In der Armut gehen Gesundheit und Ernährung bekanntlich Hand in Hand: 54 Prozent der chiapanekischen Bevölkerung ist unterernährt, und auf dem Hochland und im Regenwald übersteigt dieser Anteil die 80-Prozent-Marke.

Willkommen! ... Nun sind Sie also angekommen im ärmsten Bundesstaat: Chiapas

Nehmen wir also an, daß Sie immer weiter fahren und von Ocosocooautla abbiegen nach Tuxtla Gutiérrez, der Landeshauptstadt. Halten Sie da besser nicht an: Tuxtla ist nur ein großes Warenlager, in dem die Produktion aus anderen Teilen des Bundeslandes aufbewahrt wird. Passieren Sie jetzt Chiapas de Corzo und beachten Sie auch die Nestle-Fabrik da nicht weiter. Und dann beginnen Sie, in die Berge hochzufahren. Und was sehen Sie? Ja ganz recht, Sie haben eine andere Welt betreten: die indianische. Diese Welt ist von 300.000 Tzeltales, 300.000 Tzotziles, 120 Choles, 90.000 Zoques und 70.000 Tojolabales bewohnt. Die Zentralregierung erkennt an, daß die Hälfte dieser Indianer Analphabeten sind.

Wenn Sie der Straße immer weiter ins Innere der Berglandschaft folgen, dann gelangen Sie in das Hochland von Chiapas. Hier war der Indianer vor 500 Jahren noch in der Mehrheit, war Herr über Länder und Gewässer. Heute ist er nur noch in bezug auf die Armut in der Mehrheit. Fahren Sie bis San Cristóbal de las Casas: wenn Tuxtla ein großes Warenlager ist, dann gleicht San Cristobal einem riesigen Markt. Willkommen auf diesem Marktplatz, den „Pronasol“5 noch verschönt. Hier kann man alles kaufen und verkaufen. Alles außer der indianischen Würde. Hier ist alles teuer, bis auf den Tod. Aber fahren Sie nur immer weiter und bestaunen Sie die touristische Infrastruktur: 1988 gab es in Chiapas 6.270 Hotelzimmer, 139 Restaurants und 42 Reiseagenturen; im selben Jahr hatten 1.058.098 Touristen das Bundesland besucht.

Haben Sie mitgerechnet? Ja richtig: für tausend Touristen gibt es sieben Hotelzimmer, dagegen aber nur 0,3 Krankenhausbetten für tausend Chiapaneken. Aber lassen Sie jetzt die Rechnerei und fahren Sie weiter ... Da, sehen Sie: moderne Gebäude, solide Häuser, asphaltierte Straßen ... Eine Universität, eine Arbeitersiedlung? Nein, schauen Sie genau hin und lesen Sie das Schild da: „Hauptkaserne der 31. Militärzone“.

Fahren Sie also besser weiter nach Ocosingo, die Ökologie und dieser ganze Quark ist ja mittlerweile schwer in Mode. Schauen Sie mal, diese tollen Bäume, atmen sie tief durch. Fühlen Sie sich schon besser? Ja? Dann halten Sie ihren Blick mal besser auf der linken Seite. Wenn nicht, sehen Sie nämlich, nach sieben Kilometern, wieder so ein wunderbares Gebäude mit einem Schild „Solidarität“ über dem Eingang. Ich sage doch, schauen Sie nicht hin, Sie sollen doch nicht merken, daß dieses neue Gebäude nichts anderes ist als ... ein Gefängnis. Nein, Mann, verlieren Sie nicht den Mut und fahren Sie einfach weiter bis Ocosingo, der „Tür zum Lacandonischen Regenwald“.

Okay, okay, machen wir also einen schnellen Rundgang durch die Stadt. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten? Also gut: Diese beiden Häuser am Eingang sind Bordelle, das da hinten ist ein Gefängnis, daneben ist die Kirche, daneben die Ställe der Viehzüchter. Dahinter dann die Militärkaserne und die Polizei, und dann ist da noch das Rathaus; dahinter ein Pemex- Komplex. Der Rest sind Ansammlungen von kleinen Häuschen, die jedesmal ins Zittern kommen, wenn einer der schweren Lastwagen von Pemex oder der Kaffeepflanzer vorbeirattert. Was sagen Sie? Eine Hacienda aus den Zeiten von Porfirio?6 Ach was, das ist doch schon seit 75 Jahren vorbei!

Nein, fahren Sie besser nicht weiter bis zu der Stelle, wo sich die Flüsse Jataté und Perlas kreuzen. Steigen Sie nicht da runter, und laufen Sie nicht dreimal acht Stunden bis nach San Martin. Sie sollen doch nicht sehen, was für ein armseliges kleines Ejido das ist. Nähern Sie sich bloß nicht diesem traumhaften Haus da, das fast auseinanderfällt und mit kaputtem, rostigem Blech bedeckt ist. Was das ist? Na ja, manchmal dient es als Kirche, manchmal als Schule, manchmal als Versammlungsraum. Jetzt gerade ist es eine Schule, es ist schließlich elf Uhr vormittags. Nein, treten Sie nicht näher, schauen Sie nicht rein, und gucken Sie sich nicht diese vier Grüppchen von halbnackten Kindern an, die von Flöhen und Würmern übersäht sind. Und auch nicht diese vier jungen Indianer, die gegen ein miserables Entgelt – das sie sich nach drei Tagesmärschen abholen können – hier Lehrer spielen.

Kehren wir lieber zu der asphaltierten Straße zurück. Ja, ich weiß, sie ist in sehr schlechtem Zustand. Fahren wir also aus Ocosingo raus und bewundern diese Ländereien. Die Besitzer? Ja, die Kaffeebauern. Da drüben, am Ausgang der Stadt, ist übrigens das Nationale Indianerinstitut. Haben Sie diese großartigen Lastwagen gesehen? Die hat man den Indianern gegen Kredite zur Verfügung gestellt. Und die fahren nur mit bleifreiem Benzin, wegen der Ökologie und so. Was sagen Sie? Daß es in Ocosingo gar kein bleifreies Benzin zu kaufen gibt? Aber das sind doch nur Kleinigkeiten. Ja, Sie haben recht, die Regierung ist sehr um ihre Indianer besorgt. Böse Zungen behaupten ja, daß es hier in den Bergen Guerilleros geben soll und die Regierung deshalb versucht, die indianische Loyalität zu kaufen. Aber das sind bestimmt nur Versuche, Pronasol in Verruf zu bringen.

Fahren wir also weiter ... Ob das immer so weitergeht? Nein, gelegentlich trifft man auch auf Protestmärsche von Bauern. Zum Beispiel Xi 'Nich7. Ganz recht, bis Mexiko-Stadt. Ja, zu Fuß. Wie lange? 1.106 Kilometer. Resultate? Ihre Petitionen wurden entgegengenommen. Nein, sonst nichts.

Sind Sie müde? Wollen Sie umkehren? An Orte, die anders sind? Wo, in Mexiko? Da werden Sie überall dasselbe sehen. Die Farben, Sprachen, Landschaften und Namen ändern sich, aber der Mensch, die Ausbeutung, das Elend und der Tod, die bleiben gleich. Also, machen Sie es gut. Wenn Sie eines Tages mal einen Touristenführer brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ach, und noch was: es wird nicht immer so sein. Ein anderes Mexiko? Nein, dasselbe. Ich meine was anderes. Als ob hier und da andere Lüfte zu wehen beginnen, als ob ein anderer Wind aufkommt ...

Der Vizekönig-Lehrling

Es war einmal ein Vizekönig, besser gesagt ein Vizekönig-Lehrling. Dieser Gouverneur Patrocinio González Garrido8 machte sich daran, ganz wie die alten Monarchen, die von der spanischen Krone im Rahmen der Conquista eingesetzt wurden, die chiapanekische Geographie neu zu ordnen. Nun ist die Verteilung des ländlichen und städtischen Raumes ohnehin schon eine etwas komplizierte Form der Machtausübung. Wenn diese aber mit der Beschränktheit eines Herrn González Garrido ausgeführt wird, erreicht sie wahrlich vorzügliche Grade von Dummheit.

Der Vizekönig hat entschieden, daß die Städte mit ihren Dienstleistungen für diejenigen sein sollen, die sowieso schon alles haben. Und er entscheidet, daß die Massen besser draußen bleiben, unter freiem Himmel, und eigentlich nur einen Anspruch auf einen Platz in den Gefängnissen haben; aber auch das ist noch etwas lästig. Also hat der Vizekönig entschieden, die Gefängnisse an den Rändern der Stadt zu bauen, damit die Nähe dieser unerwünschten und verbrecherischen Massen den Herrschaften nicht allzu unangenehm wird. Hauptsächlich hat der Gouverneur in Chiapas also Gefängnisse und Kasernen bauen lassen.

Seine Freundschaft mit Großgrundbesitzern und mächtigen Kaufleuten ist für niemanden ein Geheimnis, genausowenig wie seine Abneigung gegen die drei Diozösen, die das katholische Leben im Bundesstaat regeln. Die Diozöse von San Cristóbal, die von Samuel Ruiz geleitet wird, bedeutet ständigen Ärger für das Neuordnungsprojekt von González Garrido. In seinem Bestreben, die in Chiapas herrschende absurde Struktur von Ausbeutung und Plünderung zu modernisieren, stößt er immer wieder auf die Sturheit der Geistlichen und Weltlichen, die die katholische Option für die Armen predigen und leben.

Noch bevor Patrocinio González Garrido sich auch nur träumen ließ, diesen Bundesstaat einmal zu regieren, predigte die Diozöse von San Cristóbal schon das Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit. Für einen der rückständigsten Teile des Bürgertums, die Agrarbourgeosie, konnten diese Worte nur eines bedeuten: Rebellion. Und diese „Patrioten“ und „Gläubigen“ wissen, wie man die Rebellion im Zaum hält: die Existenz der sogenannten Weißen Wachen – guardias blancas –, die mit ihrem Geld ausgerüstet und von Armeeangehörigen und Polizeibeamten trainiert sind, ist den Bauern zur Genüge bekannt; sie sind es, die unter deren Drohungen, Folterungen und Kugeln leiden.

Der Vizekönig ist besorgt. Die Bauern weigern sich einfach, dem institutionalisierten Raub zuzujubeln, der neuerdings im neuen Artikel 27 des Grundgesetzes festgelegt ist9. Der Vizekönig wütet. Die Ausgebeuteten sind keine glücklichen Ausgebeuteten. Sie weigern sich auch, in einer unterwürfigen Karawane die Almosen in Empfang zu nehmen, die Pronasol ausspuckt. Der Vizekönig ist verzweifelt und befragt seine Berater. Diese wiederholen ihm eine alte Weisheit: Gefängnisse und Kasernen reichen nicht; man muß auch das Denken beherrschen. Der Vizekönig schreitet unruhig durch die Räume seines protzigen Palastes. Dann hält er plötzlich inne, lächelt und fängt an zu schreiben...

Xeonch: Rap und Lügen

für die Bauern

In Ocosingo und Palenque, Cancuc und Chilón, Altamirano und Yajalón – überall sind die Indianer am Feiern. Eine neue Gabe der obersten Regierung erfreut das Leben der Landarbeiter und Kleinbauern, der Bauern ohne Land und der verarmten Ejido- Bauern. Endlich haben sie eine lokale Radiostation, die jetzt sogar bis in die entlegensten Ecken im Osten von Chiapas dringt. Und das Programm ist absolut angemessen: Marimba-Musik und Rap verkünden die gute Neuigkeit – das chiapanekische Land modernisiert sich. Die Nachrichtensendungen wiederholen gebetsmühlenartig: die „Desorientierung“, die „subversive“ Geistliche unter den Bauern predigen; die überfließenden Kreditströme, die allerdings nie bei den indianischen Gemeinden ankommen; die Existenz von öffentlichen Bauprojekten, die nirgends auftauchen.

Auch der hochmütige Vizekönig nimmt sich die Zeit, um über „Xeonch“ seine Drohungen zu übermitteln und die Welt daran zu erinnern, daß schließlich nicht alles aus Rap und Lügen bestehe, sondern es da auch noch die Gefängnisse, Kasernen und das Strafgesetzbuch gibt, übrigens das repressivste im ganzen Land. Schon die kleinste Äußerung von öffentlichem Unmut wird darin sanktioniert, in Delikten wie Zusammenrottung, Rebellion, Aufruf zur Rebellion, Aufruhr.

Aber die Millionen hören auch weiterhin nicht auf die Stimme des Mächtigen. Sie können nicht hören, sie sind taub geworden vom Weinen und Klagen über vergossenes Blut, Tod und Elend. Aber sobald es einen Moment der Ruhe gibt, vernehmen sie eine andere Stimme, nicht die von oben, sondern die, die der Wind von unten trägt und die aus dem indianischen Herzen in den Bergen geboren wird. Sie erzählt ihnen von Gerechtigkeit und Freiheit, von Sozialismus und von der Hoffnung... Und die ältesten unter den Alten in den Gemeinden erzählen, daß es einmal einen gewissen Zapata gegeben habe, der für die Seinen aufgestanden war und daß seine Stimme eher gesungen als geschrieen habe: „Land und Freiheit!“

Und diese Alten erzählen, daß er gar nicht tot ist, daß Zapata zurückkehren wird. Und die ältesten unter den Alten erzählen, daß der Wind und Regen und die Sonne dem Bauern sagen, wann er die Erde vorbereiten, wann er säen und wann er ernten soll. Und sie erzählen, daß auch die Hoffnung gesät und geerntet wird. Und es sagen die Alten, daß der Wind, der Regen und die Sonne jetzt anders zur Erde sprechen, daß sie aus all der Armut nicht länger den Tod ernten könne, daß es an der Zeit sei, Rebellion zu ernten. Die Mächtigen hören nicht, sie können nicht hören, sie sind taub geworden durch die Verrohung ihrer Imperien, die ihnen die Ohren verstopft. „Zapata“ wiederholen leise die jungen Armen; „Zapata“ singt auch der Wind immer weiter, der von unten, unser Wind ...

Der zweite Wind, der von unten

Dieses Volk wurde rebellisch und voller Würde geboren. Seine Verbindung zu den übrigen Ausgebeuteten des Landes besteht nicht so sehr in der Annektionserklärung von 182410, als vielmehr in einer langen Reihe von Demütigungen und Rebellionen. Die kollektive Arbeit, das demokratische Denken, die Mehrheitsentscheidungen, all das ist mehr als eine Tradition in den indianischen Gebieten; es ist die einzige Möglichkeit zu überleben, zu widerstehen, in Würde und Rebellion.

In Chiapas hört man diese Stimme der Rebellion nur dann, wenn die kleine Welt der Großgrundbesitzer und Geschäftsleute erschüttert wird. Dann allerdings hallen die Wände der Regierungspaläste vom Fantasma der indianischen Barbarei wider, und man greift zu allen Mitteln: zum glühenden Blei, zu Betrug, Drohung und zur Einkerkerung. Und wenn diese Aufstände im Südosten genauso niedergeschlagen werden wie im Norden, im Zentrum oder im Westen, dann nicht, weil sie zur Unzeit stattgefunden haben. Sondern weil der Wind aus der Erde wächst, seine Zeit braucht, um zu reifen, und zwar nicht in den Klagebüchern, sondern in den organisierten Herzen derjenigen, die nichts anderes als Würde und Rebellion ihr eigen nennen.

Und dieser Wind von unten ist nicht nur eine mutige Antwort auf die Herrschaft des Windes von oben, ist nicht nur die Zerstörung eines willkürlichen und ungerechten Systems, sondern trägt auch einen neuen Entwurf in sich. Vor allem ist er Hoffnung, die Hoffnung auf die Verwandlung von Würde und Rebellion in Würde und Freiheit.

Aus den Bergen wird dieser Wind kommen, schon gewinnt er unter den Bäumen an Stärke, wispert verschwörerisch von einer neuen Welt. So neu, daß sie gerade nur eine Ahnung ist in dem gemeinsamen Herzen derjenigen, die sie zum Leben erwecken ...

Antonio träumt: daß die Erde, die er bearbeitet, ihm selbst gehört. Daß sein Schweiß mit Gerechtigkeit und Wahrheit vergolten wird. Er träumt, daß es Schulen gibt, in denen das Übel der Unwissenheit bekämpft wird, und Medikamente, die den Tod vertreiben. Daß es Licht wird in seinem Haus und daß sein Tisch sich deckt. Er träumt, daß sein Land frei ist, daß seine Leute mit Vernunft regieren und regiert werden. Daß er mit sich und der Welt in Frieden lebt. Er träumt, daß er für diesen Traum wird kämpfen müssen und daß es Tod geben muß, damit neues Leben entsteht. Antonio träumt, und dann erwacht er ...

Ein Wind kommt auf und wirbelt alles durcheinander. Er erhebt sich und macht sich auf den Weg, um sich mit anderen zu treffen. Irgend etwas sagt ihm, daß sein Wunsch auch der Wunsch von vielen anderen ist ...

Auch der Vizekönig träumt: daß sein Land durch einen furchtbaren Wind durchgeschüttelt wird. Daß ihm all seine gestohlenen Schätze weggenommen werden, daß sein Haus zerstört wird und daß sein Königreich zusammenkracht. Er träumt, aber er schläft nicht. Er geht zu den anderen Adligen, und diese berichten ihm, daß sie dasselbe träumen.

Alle träumen in diesem Land. Es ist Zeit aufzuwachen ...

Der Sturm

Er wird geboren aus dem Zusammenstoß dieser beiden Winde, es kommt seine Zeit, er braut sich schon in den Öfen der Geschichte zusammen. Noch herrscht der Wind von oben, es kommt der Wind von unten, und dann kommt der Sturm. So wird es sein.

Die Prophezeiung

Wenn der Sturm nachläßt, wenn der Regen und das Feuer die Erde wieder zur Ruhe kommen lassen, dann wird die Welt nicht mehr die Welt sein, sondern etwas Besseres.

Geschrieben im August 1992 im Lacandonischen Regenwald, entnommen aus der mexikanischen Zeitung „La Jornada“ vom 27.1.94 (stark gekürzte Fassung), übersetzt von Anne Huffschmid

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