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Ikarus wird immer leichter

Bei den nordischen Kombinierern ändert sich der Trend: Wer große Sprünge macht, muß sich in der Loipe nicht mehr so verausgaben  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Das Hochsteigen geht halbwegs. Das Geländer wird zur wichtigsten Stütze, zur festen Hand, die einen nicht losläßt, selbst wenn das Gefühl, allmählich Bodenhaftung zu verlieren, steigt. Von Treppenstufe zu Stufe. Nur nicht umdrehen. Man könnte ja fliegen – müssen. Das, was Skispringer ständig tun, auch noch freiwillig. Ebenso die nordischen Kombinierer, die gestern ihr Skispringen absolvierten.

Was wir sehen auf den Spuren der modernen Ikarusse? Zunächst nicht viel. Nur einen extrem steilen Schneeberg, der sich vor uns auftürmt. Die Springer beim Absprung, die sieht man nicht. Man hört sie. Ein Zischen in der Luft wie bei einem starken Windzug, wenn Wohnzimmer- und Küchenfenster gleichzeitig offen stehen. Ttzziischsch – ein Vogel aus dem Nichts schießt im Sturzflug vorbei. Dann macht es plop – jäh und etwas plump nimmt die elegante Vogelfreiheit ein Ende. Nach zwei Sekunden siegt die Erdanziehungskraft über die luftige Vermessenheit.

Plop. Die Zuschauer unten im Lysgardsbakkene-Stadion sehen einen winzigen Punkt, der sich zum fliegenden Dreieck entwickelt, auf sich zukommen. Plop. Kenji Ogiwara, der 59-Kilo-Floh aus Japan, landet im ersten von zwei Sprüngen bei 89 Metern. Nur Platz sechs, enttäuschend für die dominante Gestalt dieser Saison.

Geschafft. Wir sind da angekommen, wo die Springer zum Weitenflug ansetzen – am Tisch, genannt „Bakken“. Zwei Meter ist er hoch, etwas geneigt. Der Blick? Klar doch, umwerfend. Ganz Lillehammer liegt einem zu Füßen. Fotogen und atemberaubend. Aber der Plop-Punkt ist nicht zu sehen. Statt dessen starrt man auf eine tropfenförmige Kuppe. Der Springer segelt vor unseren Augen ins Niemandsland. Er selbst sieht seine Landebahn auch erst später. Aber was ist schon später, wenn die Fahrt nach einem Flügelschlag vorbei ist?

Wir spazieren unter besagtem Sprungbrett durch und stapfen auf der anderen Seite parallel zur Anlaufspur weiter. Mit rund 85 Stundenkilometern, je nachdem wo die Jury die Luke öffnet, rasen die Springer in gebückter Haltung vorbei. Hände nach hinten, Augen auf den Bakken fixiert. Jetzt schnellen die Arme nach vorne, breiten sich wie die Ski zu Schwingen aus, werden zum Flügelersatz. „Man kann das Gefühl nicht beschreiben, wenn Luft und Ski gleichzeitig sich gegen den Körper stemmen. Du mußt es einfach selbst probieren“, hat Spezialspringer Espen Bredesen, der Weltmeister 1993, jenes „unbeschreibliche Glücksgefühl“, es den Königen der Lüfte zumindest drei Sekunden lang gleichtun zu können, dem bodenständigen Menschen nahezubringen versucht.

Nein danke! Aber auch gar keine Ambitionen! Wir lassen es bescheidenerweise bei der Schanzenbesteigung bewenden. Auf einer kleinen Terrasse auf Höhe des letzten Anlaufdrittels stehen die Trainer wie auf einem Aussichtsturm bei einer Sightseeing-Tour. Hans-Peter Wagner zum Beispiel. Plop. Kenji Ogiwara zum zweiten. 88 Meter. Es bleibt beim sechsten Rang hinter so starken Langläufern wie dem führenden Norweger Lundberg, dem Esten Markvardt oder dem Norweger Vik. Ogiwaras Traum vom Gold ist fast schon ausgeträumt. Der österreichische Nachwuchs-Coach ist trotzdem beeindruckt. „So einen möcht' ich auch mal trainieren.“ Dabei hat er selbst ein Ausnahmetalent unter seinen Fittichen – Mario Stecher, 16 Lenze jung, der mit seinen 52 Kilo fast so weit wie die Japaner fliegt. Die Spezialisierung verärgert die flügellahmeren Kombinierer. Wagner gesteht: „Die Springer sind im Vorteil.“ Wer große Sprünge macht, braucht die Loipe nicht zu fürchten.

Den 24jährigen Kenji Ogiwara, Olympia-Siebenter von Albertville, ficht der Lobbyismus unter dem Schanzentisch nicht an. „Ogiwara ist bei uns so etwas wie Boris Becker bei Euch“, sagt eine japanische TV-Redakteurin, „er verkörpert eine neue Generation.“ Müssen oder wollen sich ältere Sportler immer noch hinter einem Dolmetscher verstecken, so parliert Ogiwara in flüssigem Englisch für asiatische Verhältnisse relativ frei von der Leber weg. Die buddhistische Innenschau seiner Vorgänger hat der mediengewandte 1,69-Meter-Mann, der in schrillen Tights herumspaziert, weitgehend abgelegt. „Ich bin immer ernst“, erzählt er und lächelt dabei verschmitzt aus den Mundwinkeln.

„Die Jugend in Japan steht auf so einen wie ihn“, erzählt die Kollegin. Nicht nur weil er Humor hat. Weil er „verrückt ist nach Musik“. Nach Lillehammer einen ganzen CD-Koffer Soul, Beat, Rock mitgenommen hat. Auch weil er ein Tenniscenter eröffnet hat, wo er nach den Flugübungen am liebsten selbst auf dem Platz steht, weil „Vielseitigkeit das beste Training ist“. Weil er sich nicht scheut, selbst ein bißchen Politik zu machen in der Öffentlichkeit: „Japan hat zur Zeit viele Probleme durch die Rezession, vielleicht kann ich ein kleiner Lichtblick sein.“ „Daß er trotz seiner Ausdauer am Schanzentisch so explosiv ist“, wundert Hermann Weinbuch, den dreimaligen Weltmeister und jetzigen Sportdirektor. Ogiwara ist anders, eben. In Lillehammer allerdings könnte ihm sein Landsmann Takanori Kono, Vierter nach dem Springen, die Schau stehlen.

Kono ist ebenfalls ein Leichtgewicht. Und die sind, das weiß auch der Trainer von Mario Stecher, „durch den V-Stil bevorteilt“, weil sie weiter segeln können. Ein Kilo weniger auf den Rippen kann bei optimaler Körperhaltung bis zu drei Meter auf der Landebahn ausmachen. Hans-Peter Wagner: „Wenn der neue Stil einen neuen Springer-Typ erfordert, dann bringen die Japaner die besten körperlichen Voraussetzungen mit.“ Die kompakteren Deutschen – Sven Leonhardt (1,74 m/68 kg), Thomas Dufter (1,85/77), Thomas Abratis (1,84/73), Jens Deimel (1,82/66) – wurden von der Entwicklung überholt. 1988 in Calgary, als der Mannschaftswettbewerb zum erstenmal olympisch wurde, durften sie noch Mannschaftsgold feiern. 1992 lösten die sie Japaner ab. Heute segeln die Deutschen hinterher.

Plop. Der Klammergriff ans Geländer wird zupackender. Es geht wieder hinunter. Stufe um Stufe, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen. Der Boden unter den Füßen öffnet sich. Nur nicht ausrutschen! Nicht fliegen müssen!

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