Querdenker

Haben wir verlernt, keiner zu sein? Eine (dialektische) Analyse und ein Bekenntnis  ■ Von Kurt Scheel

In der 19. Auflage des Rechtschreibungs-Dudens (1986) kommt er noch nicht vor – was müssen das herrliche Zeiten gewesen sein! –, aber in der 20. Auflage (1991) hebt der Querdenker dann sein grauses Haupt: „jmd., der eigenständig u. originell denkt“. Das hätte er gerne, aber natürlich ist das Gegenteil eher richtig. Doch immerhin lehrt uns der Duden, daß die Querdenker-Lobby – ein Sympathisantensumpf, den dieser Artikel final austrocknen wird – auch bei den drögen Orthographen Macht, Einfluß und Mehrheit gewonnen hat.

Merke: Leute, die lesen und schreiben können (Abiturienten bis Vollakademiker einerseits, in Presse und Kulturbetrieb Tätige bzw. sich für solcherlei Interessierende andererseits), finden Querdenker sehrsehr gut (klaß) und wären, so darf man vermuten, gerne selber welche.

Dem normalen Deutschen (Rostocker, Alkoholiker usw.) sind Querdenker in der Regel wurscht, aufgrund seines gesunden Volksempfindens tendiert er jedoch, wird die affektive Besetzung des Begriffs thematisiert, zu eher negativen Qualifizierungen („Arschlöcher, Eierköpfe, schwul“).

Reden wir also im folgenden von uns, den guten, gebildeten (dochdoch) Deutschen, und warum der Querdenker mittlerweile – noch vor dem DissidentenIn (B. Bohley), dem TrauerarbeiterIn (M. Mitscherlich) und dem MahnerIn (G. Grass) – die Pole- position in unseren Sympathie- Charts eingenommen hat.

Mitte der siebziger Jahre ging es los, ich erinnere mich gut, und ich gestehe freimütig, daß ich das Q- Wort damals selber – und positiv! – benutzt habe. Wenn ich es aber heute kritisiere, zerpflücke, zernichte (I. Kant bzw. F.J. Raddatz), so nicht eines etwaigen schlechten Gewissens wegen (Renegat), aber wo! Im Gegenteil: Ich bin stolz darauf, ein Querdenker gewesen zu sein!

Es waren andere Zeiten damals, wer nicht dabei war, kann überhaupt nicht mitreden! Das war ja alles vor den Frankfurter Prozessen, H.M. Enzensberger war noch nicht als Kryptofaschist entlarvt worden usw. Wir waren eine kleine, radikale Minderheit, und natürlich macht es einen Unterschied, ob einige wenige, wirklich eigenständige u. originelle Köpfe wie wir als Querdenker bezeichnet und, bittesehr: beschimpft werden, oder ob heute Krethi und Plethi sich mit solcher Kennzeichnung zu schmücken gedenken.

Im Ernst: Gegen den Querdenker als solchen wie gegen den positiven Gebrauch des Wortes spricht hauptsächlich seine grenzenlose Verbreitung und Hochschätzung (zur Erinnerung, von uns ist hier die Rede, nicht von den normalen Deutschen). Wir sind ja per definitionem dagegen. Wir sorgen uns, wir schämen uns, auch und gerade der anderen (Pöbel), und wir sind mehrheitlich und ausweislich (H. Zehetmair) der Meinung, daß von/auf deutschem Boden nie mehr irgend etwas ausgehen darf (mit Ausnahme der Kerzen bei Lichterketten – war nur ein Witz). Wir sind also, in bestem Wortsinne, Non-Konformisten (Nicht- konform-Geher), unbequeme Mahner auch, und sitzen daher häufig zwischen allen Stühlen. Wir waren und sind, in aller Bescheidenheit, nicht Öl, sondern Sand im Getriebe. Schubladendenken ist uns verhaßt (suspekt bzw., noch besser: obsolet). Sekundärtugenden (= H. Schmidt) verachten wir: Damit kann man auch einen Puff in Saarbrücken betreiben.

Und da liegt jetzt ein Problem: Wenn mittlerweile (laut Emnid) 98,7 Prozent von unsereinem in solchem wohlverstandenen Sinne Querdenker sind – dann kommt das ganze Konformismus-Nonkonformismus-Spiel ins Rutschen! Abgesehen davon, daß Schubladen in der Regel ja sehr praktisch sind, könnte es sein, daß heutzutage und in diesem größeren Deutschland der Schubladendenker eigentlich der Nichtschubladendenker ist (mit Dialektik: es muß sein)?! Daß der Gerade der (Ver-)Quere ist?!? Daß also der Spiegel (20. Dezember 1993) letztlich zu Recht P. Glotz als „Querdenker“ bezeichnet?

Wen könnte man noch so titulieren, ohne mit einer Beleidigungsklage rechnen zu müssen? Glotz, das steht außer Frage, ist die Number one (Numero uno). D. Sölle? Hört man leider wenig in letzter Zeit. U. Ranke-Heinemann? Wird immerhin in der Buchreihe „Querköpfe“ von H.- D. Schütt als solcher/e gefeiert. R. Waschbüsch? R. Süssmuth? Bei aller Liebe zu den Mädels (s. Aus dem Wörterbuch des Unmenschen), als einziger Widerpart, als Gegen-Glotz sozusagen, bietet sich K. Biedenkopf an. H. Geißler und H. H.-Brücher kommen deswegen nicht in die engere Auswahl, weil der genuine Querdenker nicht gänzlich abgetakelt sein darf. Er zeichnet sich gerade dadurch aus, daß er fett und fidel in Institutionen und Gremien aller Art sitzt, dort das große Wort führt und gleichzeitig, als Querdenker eben, ein Rüchlein des Anarchischen, Subversiven gar verbreitet.

Insofern sind Kabarettisten wie W. Schneyder, L. Lorentz, P. Bichsel und H. Küng, die E. Henscheid verdienstvollerweise im Zuge seiner Querdenker-Forschung namhaft gemacht hat, weniger bezeichnend als die Namen politischer Querdenker. Denn Literaten, Journalisten usw. haben es ja nötig, sich bei uns, den Gebildeten, dem Volk der Leser (P. Handke), anzubiedern. Aber Politiker? Die schauen dem richtigen Volk (plebs) aufs Maul und sagen den Wählern, was diese so ungefähr hören wollen (Basisnähe bzw. Wählerauftrag).

Ich komme jetzt zum heiklen Schlußpunkt: Könnte es sein, daß wir mittlerweile auch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen (ohne ehem. DDR!)? Daß also, lassen wir die nonkonformistischen Skinheads außer Betracht, in der (alten) Bundesrepublik ca. 70 Prozent Querdenker leben? Politische Querdenker („Glotz“), die sich einen intellektuellen Dreitagebart wachsen lassen und als Kulturbetriebsnudeln uns auf den Geist und an die Wäsche gehen, wären in solchem Falle gar nicht zu kritisieren bzw. diffamieren. Im Gegenteil! Der ausgestreckte Finger, der auf einen „Glotz“ zeigt, würde dann durch drei Finger, die auf dich selber („Scheel“) zeigen, konterkariert bzw. aufgewogen (G. Heinemann).

Dann wäre die Querdenker- Pest also – hausgemacht? Dann wären wir mit-schuldig? Aber dann wüchse das Rettende auch, dann könnten wir alle – auch ausländische Mitbürger, Asylbewerber, Sinti und Roma! – den Querdenker in uns (Bruder Hitler) er-kennen und somit ent-schärfen. Packen wir's an!

Beide Texte werden Ende März in dem von Klaus Bittermann und Gerhard Henschel herausgegebenen „Wörterbuch des Gutmenschen“ (Edition Tiamat) erscheinen.