Bilder gegen die Sprachlosigkeit

Ein Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin versucht die lebenslangen Folgen der Folter therapeutisch zu mildern  ■ Von Dieter Hauptmann

Im Januar 1992 hat das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin seine Arbeit auf dem Gelände der DDR-Kliniken Westend begonnen. Unterstüzt wird das Zentrum vom Bundesfamilienministerium, dem Deutschen Roten Kreuz und privaten Spendern. Die Verletzungen aus der Folter, sagt der Mitinitiator des Zentrums und Allgemeinmediziner Dr. Christian Pross, sind äußerlich nicht erkennbar. Man muß über die Foltermethoden Bescheid wissen und sich viel Zeit für die Patienten nehmen, um ihre psychologischen Narben zu erkennen. „Die Kunsttherapie ist dabei ein wichtiger Bereich“, sagt der Arzt, „weil die Opfer ihre traumatischen Erlebnisse nicht gleich in Worte kleiden können.“

Was der Kurde Behran* aus der Türkei in seinen Bildern zum Ausdruck brachte zu einer Zeit, als er noch sprachlos war von den erlittenen Qualen und Widerwärtigkeiten, ist Teil der Therapie. Die Spezialisten wollen den Opfern helfen, die psychischen Wunden zu verarbeiten. „Es waren verschiedene Teams, die mich abwechselnd gefoltert haben“, erzählt der Kurde. „Die Polizei in Ankara ist sehr spezialisiert. Sie wissen genau, wie weit sie gehen können, ohne Spuren zu hinterlassen.“

Wenn er jetzt nach vielen Monaten der weiter andauernden Behandlung das eigentlich Unfaßbare sogar einem Fremden mit Worten beschreiben kann, ist das ein beachtlicher Erfolg. Morgens um drei zerrte das maskierte, bewaffnete Kommando seine Frau und ihn aus dem Schlaf. Sie durchsuchten die Wohnung. Die beiden wurden mit verbundenen Augen in Autos weggebracht. Schon währenddessen wurde Behran zusammengeschlagen. Angst und Schläge ließen ihn erbrechen.

Der Vorwurf, unter dem man ihn festgenommen hatte: Betätigung in einer verbotenen politischen Vereinigung, Beteiligung an Terroranschlägen mit Todesopfern. Unter Schlägen, mit stets verbundenen Augen, begann seine Befragung, bis er das erste Mal ohnmächtig wurde. Er konnte den Ort seiner Qualen als eine Art Tiefgarage ohne Tageslicht ausmachen. „Man verliert jedes Zeitgefühl bei der Folter“, sagt Behran. Deshalb weiß er auch nicht, wann und wie lange er das erste Mal nackt und auf Zehenspitzen, nur mit zwei Fingern jeder Hand abgestützt, schräg gegen die Wand gelehnt stehen mußte. Die Folgen dieser Art „Vorfolter“, wie er sie bezeichnet, spürt er weiter: „Ich kann die Hände noch immer nicht richtig schließen.“

Was menschliche Phantasie an Perversionen und Grausamkeiten zustandebringt, ist unfaßbar. Sexuelle Belästigungen des nackten Körpers mit Händen, Fingern, Stöcken. Anlegen von Elektroden an den Geschlechtsteilen, Zähnen, Ohrläppchen, Brustwarzen. „Bevor sie mit den Elektroschocks beginnen, geben sie dir salzige Teigwaren zu essen. Das macht dich nicht nur durstig, sondern intensiviert auch die Wirkung des Stroms. Und vorher wirst du noch mit Wasser abgespritzt. Danach kommst du an eine heiße Heizung, und alles geht wieder von vorne los“, schildert Behran. – Lang ist das Brevier der Gemeinheiten und Schmerzen, die er durchlitten hat, die aber nicht zu dem erhofften Geständnis führten, weil er nichts zu gestehen hatte. Wenn Behran mit Worten und Bewegungen demonstriert, wie das „palästinensische Kreuz“ funktioniert, schnürt sich einem bei der bloßen Schilderung die Kehle zusammen. Man meint, fast selbst körperlichen Schmerz zu verspüren. „Du stehst mit hinter dem Rücken gebundenen Händen auf einem Stuhl. Dann ziehen sie dich mit den Händen nach oben, nehmen den Stuhl weg, so daß dein ganzes Gewicht an den Schultergelenken hängt.“ Als ob das allein nicht ausreichte, drückt einer der Folterknechte die gebundenen Füße nach unten.

Als Behran zum zweiten Mal auf diese Art gefoltert wurde, kugelten seine Arme aus. „Da holten sie mich gleich herunter, und man brachte mich ins Krankenhaus.“ Spuren der Folter sind schließlich unerwünscht, denn das Opfer soll ja noch weiter gequält werden. „Bevor sie überhaupt mit der Folter anfingen, wurde ich ärztlich untersucht, um festzustellen, was sie mir alles zumuten könnten. Das verursachte auch meinen Haß auf die Ärzte, den ich erst im Behandlungszentrum langsam ablegte.“

„Bei den meisten Patienten dauert es lange, bis eine Vertrauensbasis aufgebaut ist“, sagt Christian Pross. Häufig wollen sie niemandem mehr trauen und haben Angst. Es verschlägt ihnen die Sprache. Die Therapeuten versuchen, die individuelle Geschichte in Erfahrung zu bringen. Es gibt sorgfältige ärztliche Untersuchungen, bei denen jede Narbe vermerkt wird. Ein Schwerpunkt ist die krankengymnastische Behandlung der Schmerzen und in den Gelenken und Körperteilen. Über die Linderung seiner körperlichen Schmerzen ist auch Behran sehr froh. Ob sie im Kopf- und Nackenbereich, an Beinen und Füßen je ganz verschwinden werden, weiß er nicht. Viel geholfen hat ihm das Malen. „Bestimmte Dinge, die ich anfangs nicht erzählen konnte, habe ich gezeichnet: wie ich nackt und mit verbundenen Augen knien mußte, als sie mir angeblich Tee geben wollten und dann auf meinen Kopf und Oberkörper urinierten. Das habe ich erst nach drei, vier Monaten der Behandlung durch Bilder zeigen können.“

Die Skala der Abartigkeiten ist unvorstellbar. „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, sagt Christian Pross: Schläge mit dicken, am Ende isolierten Elektrokabeln auf den Körper, Scheinexekutionen, bei denen das Fallbeil kurz vor dem Hals stehen bleibt, Eintauchen des Kopfes in Wasser bis kurz vor dem Ersticken. „Zunehmend wird die Folter auch durch psychologische Techniken verfeinert“, sagt der Arzt, „indem beispielsweise die Folterer gute und bösen Rollen spielen zur Verunsicherung der Opfer.“ Oder durch die tatsächliche oder angedrohte Vergewaltiung von Ehepartnern, meist vor den Augen des anderen. Auch Behran hat man versucht, damit zu erniedrigen. „Meine Frau und ich wurden einmal sogar zwangsweise nackt zusammen eingesperrt.“ Nach der Gerichtsverhandlung und der Freilassung war die noch junge Ehe nicht mehr zu retten. „Wir konnten uns nicht mehr ansehen, ich konnte keine nackten Körper mehr ertragen.“ Die Folter geht weiter, auch wenn sie eigentlich vorbei ist.

Wie lassen sich derartige, körperliche und seelisch schmerzhafte Qualen ertragen und überstehen? Auch die Therapeuten haben dafür keine allgemeingültige Erklärung. Vielen hilft, so Pross, ein starker religiöser oder ideologischer Glaube. Behran hat einen eigenen Mechanismus gefunden: „Ich habe versucht, Gedanken gegen die Gewalt zu entwickeln, obwohl sie dir dafür eigentlich gar keine Zeit lassen. Ich sagte mir oft, jetzt werden sie dich nicht töten, denn sie haben ja noch nicht erfahren, was sie wissen wollten. Dazwischen habe ich auch immer wieder geglaubt, daß ich umkomme.“

Wie lange die schwierige Behandlung von Folteropfern im Berliner Zentrum und in Zusammenarbeit mit Fachkliniken und niedergelassenen Ärzten dauert, läßt sich nicht in Regeln fassen. „Wir haben inzwischen einige Fälle“, sagt Christian Pross, „deren Behandlung man als abgeschlossen bezeichnen kann.“ Eine völlige Wiederherstellung der Patienten – überwiegend alleinstehende Männer, hauptsächlich aus der Türkei, Rumänien, Libanon, Ex-Jugoslawien, Iran, Irak und der früheren DDR – ist ohnehin nicht möglich. Auch bei Behran dauert die Therapie noch an. „Selbst wenn man körperlich einmal geheilt sein sollte“, sagt der Kurde, „wird ein Folteropfer erst mit seinem Tod das Geschehene vergessen.“

* Name geändert