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Bilderrätsel in der Bildungspolitik

Karriere einer Graphik: Alle Welt schreckt auf, weil es mehr Studenten als Lehrlinge gibt. Für den Rückgang der Lehrverträge sind aber vor allem die Probleme in der Berufsbildung und demographische Gründe ausschlaggebend  ■ Von Helmut Köhler

Das Schlagwort vom „Studentenberg“ geht durch Medien und Politik. Es gebe mehr Studenten als Lehrlinge, klagt nicht nur der Kanzler. Ins Bild gesetzt wird dieser Zahlenvergleich mit Graphiken, die seit 1991 in mehreren Versionen auch durch die seriöse Presse gehen. Überrascht fragt man sich, ob es bald überhaupt keine Lehrlinge, sondern nur noch Studenten geben werde? Doch die beliebte Graphik ist irreführend.

Die Gesamtzahl der Studenten und der Lehrlinge wird wesentlich von der Ausbildungsdauer bestimmt – und die ist für das Studium erheblich länger als für die Lehre. Daher ist die Gegenüberstellung von 1,83 Millionen Studenten und 1,67 Millionen Auszubildenden (1992) nicht geeignet, die Häufigkeit von Entscheidungen für das Studium oder die betriebliche Lehre abzubilden.

Lehrlinge sind im Schnitt jünger als Studenten. Deswegen wirkt sich der Bevölkerungsrückgang in den Lehrwerkstätten viel früher aus. Während die Hochschulen noch den Ansturm der Jahrgänge des vielzitierten „Geburtenberges“ aus den sechziger Jahren zu bewältigen hatten, waren Ende der achtziger Jahre in der betrieblichen Ausbildung bereits die geburtenschwachen Jahrgänge an der Reihe.

37 Prozent der Studenten absolvieren eine Lehre

Die Graphiken suggerieren außerdem, daß sich Lehre und Studium gegenseitig ausschließen. Mittlerweile aber haben in den alten Bundesländern 37 Prozent der Studienanfänger eine Berufsausbildung absolviert. In den östlichen Bundesländern sind es sogar knapp die Hälfte.

Eine Graphik, die nicht auf die falsche Fährte führen, sondern aufklärerisch wirken soll, würde die Zahlen der Studienanfänger und der neu eingetretenden Azubis zeigen – und sie vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung betrachten. (Siehe unten)

Denn trotz steigender Studienanfängerzahlen beginnt in der Bundesrepublik immer noch die überwiegende Mehrzahl eines Altersjahrgangs eine Lehre. 1992 lag die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den alten Bundesländern bei 536.000. Dagegen haben sich nur etwa 280.000 Studenten an Hoch- und Fachhochschulen neu eingeschrieben. Die sinkende Zahl der Lehrverhältnisse ist in erster Linie auf den Bevölkerungsrückgang zurückzuführen, der sich seit Mitte der 80er Jahre auf die Lehranfänger auswirkt.

Viele wollen studieren – gehen aber in die Lehre

Betrachtet man die Quoten neu abgeschlossener Lehrverträge – bezogen auf die für die Lehre relevanten Altersgruppen –, so kann man sogar eine kontinuierliche Steigerung seit 1975 feststellen. Demgegenüber ist die Studienanfängerquote erst in den Jahren 87 bis 90 gestiegen. Das hängt mit der steigenden Studienneigung zusammen, die zunehmend auch ältere Menschen an Universitäten und Fachhochschulen führt.

Nun könnte man die Verbreitung vereinfachender Graphiken einfach als übliche „journalistische“ Verarbeitung statistischer Meldungen betrachten – die das Interesse der Öffentlichkeit wecken soll. Aber der graphischen Vereinfachung entspricht die der Argumentationsmuster. Die unkritische Übernahme der angebotenen Interpretationen unterstützt eine voreilige bildungspolitische Problemdefinition und provoziert falschen Handlungsdruck: Mancher glaubt „den gefährlichen Trend“ gebannt, wenn es gelänge, durch verschärfte Erfolgskontrollen möglichst viele Jugendliche vom zu „langen“ oder „perspektivlosen“ Studium abzuhalten.

Jenseits der notwendigen Kritik an der suggestiven Kraft der Graphik muß man daher grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von akdemischer und beruflicher Ausbildung stellen. An den Hochschulen hat der aufgestaute „Handlungsbedarf“ rasch zu den umstrittenen „Maßnahmen“ wie Studienzeitbeschränkungen geführt. Die Probleme der betrieblichen Ausbildung aber kommen wieder nicht auf den Tisch. Man gewinnt den Eindruck, daß mancher sich von der Reform der Hochschulausbildung automatisch Lösungen der Probleme in der betrieblichen Ausbildung verspricht. Tatsächlich wird eine erfolgreiche Studienreform die Berufsbildung im Betrieb mehr und mehr in die Defensive bringen.

Die Arbeitgeber beklagen, viele der angebotenen Ausbildungsplätze könnten nicht besetzt werden, während sich gleichzeitig ein empfindlicher Facharbeitermangel abzeichnet. Das Ungleichgewicht auf dem Lehrstellenmarkt darf jedoch nicht vorschnell als Folge zunehmender Studienneigung interpretiert werden. Vielmehr wird eine Analyse von Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt schnell zu dem Ergebnis kommen, daß Lehre nicht gleich Lehre ist:

I. Die Struktur von Angebot und Nachfrage hat sich am Lehrstellenmarkt seit jeher nicht entsprochen. Auch das Arbeitsamt und seine Berufsberater können dieses Ungleichgewicht nicht ausgleichen. Vielmehr haben sich die Ansprüche der Jugendlichen an die Berufsausbildung geändert. Fehlentscheidungen bei der Lehre werden schnell korrigiert. Mittlerweile löst knapp ein Viertel aller Azubis den neu abgeschlossenen Vertrag vorzeitig auf, um den Lehrmeister nochmals zu wechseln. In einzelnen Berufen tun das mehr als die Hälfte.

II. Auch verändern sich in modernen Berufsfeldern die Ausbildungsprofile sehr schnell – sie werden anspruchsvoller. Das macht es schwerer, auch den kleiner gewordenen Teil von Jugendlichen ohne qualifizierten Abschluß in einer beruflichen Ausbildung unterzubringen. Das Ausbildungsniveau in den Spitzenberufen nähert sich zusehends der Fachhochschulqualifikation an.

III. Die vielbeschworene Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung läßt sich nicht verordnen. In erster Linie muß sich die Entlohnung nach Abschluß der Lehre ändern. Die Aufstiegschancen der Ausgelernten müssen sich verbessern. Die jungen Leute wollen die Aussicht auf eine interessante Tätigkeit haben. Ohne diese Voraussetzungen könnte sich der Versuch als Bumerang erweisen, den Lehrabschluß durch die Hochschulreife für Azubis aufzuwerten. Keiner würden sich damit begnügen, mit Abitur auf uninteressanten Arbeitsplätzen zu verbleiben, sondern bald vor den Türen der Unis stehen. Die von Wirtschaft und Verwaltung forcierte Expansion der Fachhochschulen wird diesen Prozeß noch fördern – wenn es nicht gelingt, die innerbetrieblichen Aufstiegswege so einzurichten, daß die berufspraktisch ausgebildeten Fachkräfte nicht automatisch schlechtere Arbeitsbedingungen, niedrigere Eingangsgehälter und langfristig geringere Aufstiegschancen erwarten müssen.

Die Überfüllung der Unis kann man nicht aussitzen

Das Festhalten an eingeübten Argumentationsmustern, wie sie in den kritisierten Graphiken zum Ausdruck kommen, verstellt also eher die Sicht auf die zu lösenden Probleme. Allzulange hat man mit dem demographischen Argument in einer einzigen Richtung argumentiert: die Hochschulen sollten Überfüllung und sich verschlechternde Studienbedingungen aussitzen, bis die Jahrgangsstärken wieder abnehmen. Eine Strategie, die sich endgültig als verfehlt herausstellt. In der betrieblichen Ausbildung wurde derweil die Schaffung von Ausbildungsplätzen für die geburtenstarken Jahrgänge primär unter quantitativen Gesichtspunkten propagiert. Damit hat man genau das betrieben, was den Hochschulen so oft vorgeworfen wird: nämlich Qualifikationen am Bedarf vorbei zu produzieren. Man darf sich nicht wundern, wenn jetzt die Nachfrage nach unattraktiven Ausbildungsplätzen zurückgeht. Die Krise, in der sich sowohl die akademische als auch die berufliche Bildung befindet, muß zu der Einsicht führen, daß rückläufige Jahrgangsstärken nicht als Chance zur Einsparung und Rationalisierung wahrgenommen werden dürfen. Sie müssen vielmehr als Spielraum für die Verbesserung der Qualität der Ausbildung genutzt werden.

Der Autor leitet die Statistik-Abteilung des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung

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