Die Geburt des „sorgenden Staates“

Eine vergleichende Analyse zur Entwicklung des westlichen Wohlfahrtsstaates  ■ Von Christian Rath

Wie kamen Gesellschaften dazu, landesweite kollektive Arrangements gegen Risiken und Defizite zu treffen, die die Menschen einzeln zu bedrohen schienen? Das fragte sich der holländische Soziologe Abram de Swaan, dessen Buch jetzt (fünf Jahre nach der englischsprachigen Ausgabe) auch auf dem bundesdeutschen Markt erschienen ist. De Swaan hält den Sozialstaat weder für eine Verschwörung der „Herrschenden“, die revolutionäre Bewegungen korrumpieren wollen, noch sieht er ihn primär als Errungenschaft langer solidarischer Kämpfe der sozial Benachteiligten. Auch für das Wechselspiel zwischen staatlichen Wohlfahrtsausgaben und wirtschaftlichem Wachstum interessiert er sich (zu) wenig.

Grundthese seiner Untersuchung: Vor allem „Konflikte zwischen den Eliten“ waren ursächlich für die Dynamik der Kollektivierung im Fürsorge-, Gesundheits- und Bildungswesen. Weil die Armut unerwünschte „externe Effekte“ für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, den sozialen Frieden sowie die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven mit sich brachte, versuchten die Eliten diese Belastungen des Gemeinwesens durch die Schaffung kollektiver Einrichtungen zu beseitigen.

Zuerst ging es bei diesen Konflikten unter den Eliten vor allem um die Verhinderung von „Schmarotzertum“ – von Teilen der Eliten, wohlgemerkt. Denn niemand wollte vom Wegfall der schädlichen externen Effekte profitieren, ohne selbst etwas zur Schaffung der kollektiven Einrichtungen beizutragen. Diesen wohlfahrtsökonomischen Ansatz ergänzt de Swaan durch eine historisch-soziologische Sicht, das heißt, er beschränkt sich nicht auf die Darstellung „Spielmodelle“, sondern versucht konkret die Entwicklung in ausgewählten Ländern – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, USA und Niederlande – nachzuzeichnen.

De Swaans Musterbeispiel ist der Umgang der städtischen Eliten mit den Cholera-Epidemien während des 19. Jahrhunderts. Als man erkannte, daß der Ausbruch von Seuchen mit den Lebensbedingungen der Armen zu tun hatte, bildeten sich relativ rasch sozial homogene Stadtviertel heraus. Doch auch dort war niemand sicher vor Übergriffen der Seuche. Deshalb rieten die damaligen Experten zur Versorgung mit fließendem Wasser und zur Anlage einer Kanalisation. Allerdings begann man mit den Baumaßnahmen nicht in den innerstädtischen „Seuchenherden“, sondern in den wohlsituierten Außenbezirken. Denn die hohen Kosten der Anlagen konnten nur über die Anschlußgebühren der Bessergestellten aufgebracht werden, die diese für den Luxus von fließendem Wasser und Spültoilette gerne bezahlten. Erst wenn eine Stadt fast ganz erschlossen war, bezog man aus öffentlichen Mitteln zu niedrigen Grenzkosten auch die Slums mit ein.

Diese Ungeradlinigkeit der Entwicklung scheint typisch zu sein. De Swaan bemüht sich jedenfalls, einfachen Modellen aus dem Weg zu gehen. Das verleiht der Studie einerseits Glaubwürdigkeit, macht sie aber auch sperrig. Eine für alle untersuchten Bereiche geltende Formel der Entwicklung hin zur kollektiven Wohlfahrt wird man im Buch nicht finden.

Ein anderes Beispiel: die Entwicklung der öffentlichen Fürsorge im 18. Jahrhundert. Banden ausgegrenzter Armer zogen durch das Land. Die Kommunen standen vor einem Dilemma: Zeigten sie sich den VagabundInnen gegenüber großzügig, so riskierten sie einen Ansturm von BettlerInnen, jagten sie diese jedoch davon, so gefährdeten sie Landwirtschaft und aufstrebenden Handel. Kollektive Absprachen blieben schwierig, weil das Ausscheren einzelner Kommunen diesen kurzfristig Vorteile versprach. Erst der Plan, die gefährlichsten (und damit auch arbeitsfähigsten) Armen in (vermeintlich) ökonomisch profitablen Arbeitshäusern einzuschließen, wies den Weg aus dem Dilemma, da sich nun das Interesse der einzelnen Kommune mit dem der (herrschenden) Allgemeinheit zu decken schien. Dies war zwar ein kollektiver Irrtum. Denn gerade die kräftigsten der Armen entzogen sich dem Zugriff, während im Arbeitshaus nur die Ältesten und Schwächsten verblieben. Als der Irrtum dann bemerkt wurde, hielt jedoch der sich entwickelnde Zentralstaat die Kommunen mit Zuschüssen bei der Stange ihrer kommunalen Fürsorgeprojekte und begann so, sich als koordinierende Instanz in die Sozialpolitik zu verstricken. Wer hier Parallelen zur internationalen Flüchtlingspolitik in heutiger Zeit sucht, wird sie finden. De Swaan selbst verweist nur ganz behutsam auf aktuelle Bezüge dieser Art, zu groß ist wohl seine Furcht vor unzulässigen Verallgemeinerungen.

Zu aktuellen Vergleichen lädt auch eine weitere der Fallstudien ein. Die Herausbildung von politischen Nationen mitsamt der zugehörigen Nationalökonomie sieht de Swaan eng verknüpft mit der landesweiten Einrichtung von Elementarschulen, an denen neben Lesen und Schreiben vor allem auch die standardisierte Landessprache als „nationaler Verständigungskode“ gelehrt wurde. Gegen die Elementarschulpläne stellten sich die alten regionalen Eliten, die – zu Recht – ihre Rolle als Mittler bedroht sahen. (Parallelen zur heutigen Formierung der Europäischen Union liegen nahe, wenngleich hier die integrative Lösung wohl eher in konsequenter Mehrsprachigkeit liegen dürfte.)

Auch bei der Einführung von Sozialversicherungssystemen in den Jahren 1880 bis 1930 kam es zu Divergenzen unter den Eliten. Für eine kollektive Absicherung der Risiken bei Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit sowie bei Arbeitsunfällen engagierten sich (in national unterschiedlichen Konstellationen) reformwillige Regierungen, das Industriekapital sowie die gemäßigten Gewerkschaftsführungen. Erbitterte Gegenwehr kam von den Selbständigen und dem Kleinbürgertum. Für jene gehörte das Sparen so sehr zum eigenen Lebensstil, daß sie diese soziale Sicherheit den ArbeiterInnen verwehren wollten, um die geringe soziale Distanz zu verteidigen.

Wenn man so mit de Swaan die letzten drei Jahrhunderte Revue passieren läßt, erhält man – ganz nebenbei – ein Gefühl für die Imposanz des Erreichten. Zwar kann und will das Buch zu den jüngsten Debatten um die „Krise des Sozialstaates“ wenig beitragen. Aber allein schon das Wissen, daß aus historisch-vergröbernder Sicht die Geschichte des „sorgenden Staates“ eine Geschichte steten, wenn auch mäanderhaften Fortschritts gewesen ist, hat – gerade heute – durchaus etwas Beruhigendes.

Abram de Swaan: „Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit“. Campus, 1993, 345 Seiten, 78 DM