„Moral, Anstand, saubere Hände“

Bei den türkischen Kommunalwahlen werden voraussichtlich Islamisten beachtliche Erfolge erzielen / In Kurdistan wollen Militärs einen Sieg der PKK-freundlichen DEP verhindern  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die großen türkischen Medienkonzerne führen dieser Tage einen regelrechten Propagandakrieg gegen die islamistische Wohlfahrtspartei. Kolumnisten warnen vor „reaktionären Kräften“, die die Türkei ins Mittelalter führen wollten. Der Grund für die Panik sind die anstehenden landesweiten Kommunalwahlen am 27. März. Die türkischen Islamisten sind im Aufwind. Umfragen der Meinungsforschungsinstitute zufolge könnte die Wohlfahrtspartei über 20 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. Bei den Kommunalwahlen ist die relative Mehrheit ausreichend für die Wahl des Bürgermeisters.

Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der Wohlfahrtspartei, hat die Losung von der „gerechten Ordnung“ ohne „Ausbeutung und Zinsen“ ausgegeben. Die Politiker der etablierten Parteien seien allesamt korrupte Büttel des von den Militärs gelenkten Regimes. Allein die Wohlfahrtspartei verspreche „Gerechtigkeit für alle“. „Moral, Anstand, saubere Hände“ als Alternative zu den bürgerlichen Parteien, die insbesondere in der Kommunalpolitik durch Schmiergeldaffären in Verruf gekommen sind. Die türkischen Islamisten, die in den letzten 20 Jahren noch nie über zwölf Prozent der Stimmen erhalten haben, sind im Begriff neue, städtische Wählerschichten zu erobern.

Goodwill-Touren zu Synagogen und Kirchen

Dabei soll ein neu zurechtgelegtes Image helfen. Parteifunktionäre präsentieren der Presse unverschleierte, berufstätige Frauen, die in die Partei eintreten. Kandidaten der Partei gehen auf Goodwill- Tour und besuchen Synagogen und Kirchen. Fotomodelle und Prostituierte werden Neumitglieder der Partei. Sogar Angehörige der Alewiten, jener muslimischen Glaubensrichtung, die bisher von sunnitischen Islamisten bis aufs Messer bekämpft wurde, werden nun von diesen als Kandidaten für die Kommunalwahlen aufgestellt.

Die Wahlkampfreden der Kanditaten der Wohlfahrtspartei sind mit Vokabeln wie „Demokratie“ und „Toleranz“ gespickt. Unter ihrer politischen Herrschaft werde niemandem Zwang angetan, niemandem werde der Schleier übergestülpt, behaupten sie. Statt dessen will der Bürgermeisterkandidat der Partei in Istanbul, Tayyip Erdogan, den französischen Modezaren Pierre Cardin für eine Kopftuch-Modenschau in die Stadt holen.

Die Islamisten sind sich bewußt, daß sie das ihnen anhaftende Chomeini-Image Wählerstimmen kostet. Dagegen kreieren sie das Bild einer gemäßigten islamischen Massenpartei, vergleichbar den christdemokratischen Parteien in Europa.

Doch der offizielle Sinneswandel der zum Teil mit illegalen Spenden aus Saudi-Arabien finanzierten Partei könnte trügen. Die Praxis der Partei in den Kommunen, wo sie Bürgermeister stellt, läßt befürchten, daß sie insgeheim systematisch auf die Errichtung eines theokratischen Regimes hinarbeitet.

Im Juli vergangenen Jahres steckte in der zentralanatolischen Stadt Sivas ein aufgebrachter Mob ein Hotel in Brand, weil darin tagende Intellektuelle angeblich der Blasphemie frönten. Die Wolfahrtspartei wollte mit dem Massaker, bei dem 36 Menschen starben und 60 verletzt wurden, nichts zu tun haben. Jüngst veröffentlichte Videoaufnahmen zeigen jedoch, wie der Bürgermeister der Stadt – ein Parteimitglied – zuvor öffentlich ein „Seelengebet“ für die Hotelgäste sprach. Ein Gericht muß nun anhand der Videoaufnahmen entscheiden, ob diese Maßnahme, die üblicherweise zum Tode Geweihten zuteil wird, als indirekter Mordaufruf zu interpretieren ist.

Ein Sieg der Islamisten in Istanbul ist möglich

Der Aufschwung der Wohlfahrtspartei ist jedoch nicht unbedingt Ausdruck einer Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Viele Stimmen für die Partei werden aus dem Lager der Protestwähler kommen. Ein Wahlsieg der Islamisten in der 10-Millionen-Metropole Istanbul – durchaus im Bereich des Möglichen – wäre ein gewaltiger Einschnitt in der politischen Geschichte der türkischen Republik. Die etablierte türkische Politprominenz ist unter der Bevölkerung so sehr diskreditiert, daß die großen Parteien in Istanbul Kandidaten ohne politische Vergangenheit aufgestellt haben. Die Sozialdemokratische Volkspartei (SHP) schickt den parteilosen Sänger und Komponisten Zülfü Livaneli in das Rennen, und die Mutterlandspartei (ANAP) holte einen Bürokraten aus dem staatlichen Planungsamt in Ankara.

Der Protest, der sich im Westen in dem Aufschwung der Islamisten artikuliert, wird sich in den kurdischen Regionen des Landes in Stimmen für die „Partei der Demokratie“ (DEP) niederschlagen. In kurdischen Städten wie Diyarbakir dürfte es einen überwältigenden Sieg der DEP geben, deren Kandidaten auch von der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt werden. Die türkische Führung versucht einen Sieg der ungeliebten DEP mit staatlichem Terror zu verhindern. Zahlreiche Funktionäre der Partei wurden von Todesschwadronen ermordet und Bürgermeisterkandidaten von der Polizei festgenommen. Militäreinheiten drohen unverblümt, kurdische Dörfer in Brand zu stecken, falls deren Bewohner bei den Kommunalwahlen für die DEP votieren.