Sarajevo zwischen Hoffen und Bangen

Vor Ablauf des Nato-Ultimatums genießt die Bevölkerung Sarajevos die ungewohnte Ruhe in der belagerten Stadt. Viele hoffen auf Luftangriffe, die immer unwahrscheinlicher werden. Die diplomatischen Bemühungen gehen weiter.

Es waren schon beinahe Mißfallenskundgebungen, die der Sprecher der Unprofor, Bill Aikman, gestern bei den zahlreich angereisten Journalisten aus aller Welt auf der Pressekonferenz in Sarajevo erzeugte. Ungläubiges Staunen und Murren begleitete die Äußerungen des kanadischen Offiziers, der nicht in der Lage war, auch nur ansatzweise seine Behauptung zu belegen, daß die serbischen Truppen ihre Artillerie aus ihren Stellungen um Sarajevo zurückzögen. Und auch der Vorschlag, etwa 400 Mann von russischen Truppen in die Region zu führen, wurde mit Kopfschütteln beantwortet. Selbst die Information, daß zwei britische Einheiten mit zusammen 360 Mann sich vom zentralbosnischen Vitez aus in Richtung Sarajevo bewegten, konnte die Gemüter nicht beruhigen.

Denn seit dem Besuch des britischen Premierministers Major in Moskau mochten nicht einmal die Vertreter von BBC ausschließen, daß dabei eine Absprache zwischen Großbritannien und Rußland zustandekam, die Bombardierung der serbischen Stellungen um Sarajevo durch die Nato zu verhindern.

Kein einziges Fahrzeug hatten die Presseleute entdeckt, denen es gelungen war, in das serbisch besetzte Gebiet vorzudringen. Nach den starken Schneefällen waren diesbezügliche Aktivitäten nicht unbemerkt geblieben. Und da bisher die UNO-Truppen unter dem britischen General Michael Rose es versäumt haben, mit der serbischen Seite zu vereinbaren, der internationalen Presse den Abzug vorzuführen, bekam die Vermutung der BBC-Vertreter in Sarajevo neue Nahrung. Mit der Zweckmeldung, der Abzug fände statt, solle der Druck der öffentlichen Meinung in allen westlichen Ländern, endlich auch militärisch gegenüber den Belagerern aktiv zu werden, abgemildert werden, mutmaßten sie. Bill Aikman gab auf solcherlei Vorwürfe gestern keine Antwort.

Unterdessen überraschte die bosnische Regierung mit dem Vorschlag, die russischen Truppen in die Stadt Sarajevo zu überführen. Ursprünglich war von serbisch- russischer Seite vorgeschlagen worden, die Russen in den serbisch besetzten Gebieten um Sarajevo zu stationieren. Würde dies geschehen, wäre die Option eines Luftangriffs der Nato völlig ausgeschlossen, denn dann würden auch russische Truppen direkt angegriffen.

So erklärte das Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, Ejub Ganić, am Donnerstag abend, die bosnische Armee sei bereit, ihre schweren Waffen auch von russischen Truppen bewachen zu lassen, sie müßten jedoch in der Stadt stationiert werden.

Unterdessen genießt die Bevölkerung von Sarajevo die ungewohnte Ruhe, die seit Beginn der Frist für den Abzug der serbischen Artillerie in der Stadt herrscht. Weder Artillerieeinschläge noch Maschinengewehrfeuer stören die Freude der Kinder, die in der Altstadt die Straßen zu Schlittenbahnen umfunktioniert haben. Und trotz der Kälte und des Schneefalls sind die Straßen so voll wie seit dem August 1993 nicht mehr. Auch damals hatte die Nato mit Luftangriffen gedroht. Gaben damals Straßencafés eine ungewohnte Kulisse in der Stadt ab, so können sich heute die Menschen in den wieder geöffneten Restaurants und Cafés wärmen, von denen viele seither geschlossen waren. Hoffnungsvoll richten sich die Blicke auf die Kampfflugzeuge der Nato, die in Stundenabständen die seit 22 Monaten belagerte Stadt überfliegen, um im Tiefflug auf die serbischen Stellungen zuzurasen. „Es wäre zu schön, wenn endlich etwas geschähe, um der Belagerung unserer Stadt ein Ende zu machen“, erklärten gestern mehrere Passanten, „doch noch können wir dies nicht glauben. Zu oft sind unsere Hoffnungen enttäuscht worden.“

Noch ist der Marktplatz, auf dem am 5. Februar 68 Menschen starben, verwaist. Polizisten bewachen den Ort des Grauens, an dem viele Passanten stehenbleiben, um der Toten und der mehreren Hundert Verwundeten zu gedenken. Bisher ist es der UNO offenbar nicht gelungen, den Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren, obwohl ihr alle Möglichkeiten und Informationen seitens der bosnischen Regierung zur Verfügung gestellt wurden. Die beiden Kommissionen der UNO, die bisher zweimal vor Ort gewesen sind, scheinen bisher nicht willens, ein Statement abzugeben.

Nach der Lesart der bosnischen Regierung hatte die Mine vom Typ M-46, die von einem 120-mm-Minenwerfer abgefeuert wurde, einen Einschlagwinkel von 55 Grad. Nach Auskunft eines bosnischen Artilleristen deutet alles darauf hin, daß die Mine aus einer Entfernung von vier bis fünf Kilometern aus Nordosten abgefeuert wurde. Dort, in der Umgebung des Dorfes Mrković, befinden sich seit langem Stellungen serbischer Artillerie.

Die Bewohner der Altstadt, die in der Nähe des Marktes leben, erinnern sich noch voller Grauen an diesen Tag. Und über die Behauptung von Radovan Karadžić, die bosnische Armee habe selbst geschossen, wird nur gelacht. Entrüstet jedoch reagieren sie, daß manche Presseagenturen „diesen Unsinn“ in der Welt verbreiten. „Mit diesen Propagandalügen soll doch nur Zeit gewonnen werden“, erklärt eine Frau, die selbst bei einem Granatangriff vor sechs Wochen verletzt wurde. Der Angriff erfolgte übrigens an dem Tag, an dem an Suada Dijhoroić erinnert wurde, das erste Todesopfer des Krieges in Sarajevo. Am 5. April 1992 nämlich war sie als Beteiligte der großen Friedensdemonstration von serbischen Scharfschützen, die auf die Demonstranten feuerten, ermordet worden.

Die Gedenkfeier fand in Anwesenheit des Präsidenten Alija Izetbegović in dem vom Marktplatz kaum 200 Meter entfernten Präsidentschaftsgebäude statt. Die Granate wurde genau zu dem Zeitpunkt abgefeuert, als ein Streichquartett das Stück von Franz Schubert „Der Tod und das Mädchen“ spielte. Erich Rathfelder,Sarajevo