Schock ist die beste Reaktion

■ Gespräch mit Ken Loach über „Ladybird, Ladybird“

taz: Ladybird“ basiert auf einer wahren Geschichte. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Ken Loach: Die Sozialarbeiterin, die mit Maggies Fall befaßt war, nahm Kontakt zu mir auf. Sie erzählte, was im Krankenhaus geschah, als Maggie ihr sechstes Kind bekommt, das ihr wieder weggenommen wird. Die Sozialarbeiterin hat inzwischen gekündigt, unter anderem wegen der schlechten Erfahrungen, die sie bei Maggies Fall mit den Behörden machte.

Ihre beiden letzten Filme sind nicht nur realitätsnah, sie leben vom Galgenhumor; „Raining Stones“ hat sogar ein Happy-End. „Ladybird“ ist keine Komödie. Der Film erzählt, wie Maggie ihr fünftes und sechstes Kind verliert. Daß sie ihre drei nächsten Kinder behalten durfte, steht nur noch im Abspann. Sind Sie pessimistischer geworden?

Ich hoffe, das Ende von „Ladybird“ ist nicht die reine Verzweiflung. Immerhin bleiben Maggie und Jorge zusammen und kämpfen weiter um ihre Familie. Maggie ist einfach eine Frau, die außerordentlich viel Kraft besitzt.

Aber mit ihrer Wut erreicht sie genauso wenig wie ihr Freund, der es auf die sanfte Tour probiert. Mich hat das an Mike Leighs „Naked“ erinnert. Aus England kommen zur Zeit mehrere Filme, die zeigen, daß die Lage sich weiter verschlechtert hat und es nicht allzu viel Hoffnung gibt.

Ich würde das nicht verallgemeinern. Im Fall von „Ladybird, Ladybird“ liegt es an der Geschichte. Der Zuschauer soll spüren, was es heißt, wenn einem soviel Gewalt angetan wird, aber auch sehen, wie man das überstehen kann. Maggie wurde als Kind von ihren Eltern mißhandelt, als junge Frau von den Männern und nun als Mutter vom Staat. Diese Gewalt verwandelt ihre Lebensenergie, ihre Vitalität und Leidenschaft in ungeheuren Zorn, wahrlich gerechten Zorn. Es ging mir weniger um die Darstellung eines authentischen Falles, vielmehr um die allmähliche Zerstörung einer Person.

Sie hat soviel Leid erlebt, daß sie gar nicht mehr weiß, wohin sie damit soll. Der Schmerz verwandelt sich in Wut, und der einzige Mensch, bei dem sie diese zerstörerische Wut lassen kann, ist ihr Geliebter. Und um ein Haar zerstört sie auch diese Liebe. Es ist unglaublich schwierig so etwas auszuhalten, ohne daß man einander zerstört. Ich habe großen Respekt davor. Pessimistisch wäre es, wenn Maggie aufgeben würde. Ich glaube nicht, daß der Zuschauer am Ende resignieren muß. Er wird eher Maggies Wut teilen.

Man braucht sich nur mal vorzustellen, was aus einem Menschen mit solchen Qualitäten werden könnte, wenn er unter besseren Bedingungen leben würde. Sie könnte Maggie Thatcher sein. Nein, das ist ein schlechter Vergleich. Ich meine nur, sie könnte soviel bewirken, aber die Welt hat sie daran gehindert.

Der dokumentarische Stil Ihrer Filme hat viel mit Ihrer Arbeitsmethode zu tun. Sie mischen meist inszenierte Szenen mit dokumentarischen, Schauspieler arbeiten mit Laien.

Die Sozialarbeiter werden von Schauspielern dargestellt. Aber um sich vorzubereiten, haben sie ein paar Tage lang Sozialarbeitern über die Schulter geschaut.Wir hatten auch Sozialarbeiter als Berater auf dem Set, die uns zum Beispiel erzählt haben, was vor sich geht, wenn einer Mutter ein Baby weggenommen wird. Aber ich wollte keinen Film gegen Sozialarbeiter machen und schon gar nicht den Rechten Argumente liefern, die das soziale Netz beschneiden wollen. Sozialarbeiter haben einen schweren Beruf, viel schwerer als Filmemacher.

Angeblich geben Sie den Schauspielern nicht das ganze Drehbuch, sie bekommen immer nur die Szene zu lesen, die als nächste gedreht wird.

Ich arbeite nicht grundsätzlich, sondern nur wenn es sinnvoll ist. Oft ist der erste Schock die authentischste Reaktion. Und es ist besser, der Schauspieler hat diesen Schock beim Drehen als beim Lesen des Skripts. Die unmittelbare Erfahrung läßt sich nachträglich kaum wiederholen.

Das heißt, Crissy Rock wußte nicht, daß sie im Lauf des Films ihr fünftes und ihr sechstes Kind verlieren würde?

Nein, sie wußte es nicht. Sie dachte, es gibt ein Happy-End, und sie hat zum Schluß eine Familie und führt ein geregeltes Leben. Sie war stinksauer und hat zu mir gesagt: Du Schuft! Wie kannst Du den Schluß nur so traurig machen?

Interview: Christiane Peitz