Fürsorgeterror

Sozialpädagogen als Erinnyen: Ken Loachs „Ladybird, Ladybird“ im Wettbewerb  ■ Von Mariam Niroumand

Neulich im Pub: Übertoupierte Laiensänger geben Eighties-Hits zum besten, eine mit noch ein bißchen mehr Tristesse als die anderen. Jorge aus Paraguay hat sie angeschaut und gewußt: „Du singst schön, aber du siehst traurig aus.“ Nach dem heutzutage obligatorischen Regen-Lauf von Filmliebespaaren landen sie bei ihm zu Hause. In Rückblenden sieht man, was sie ihn mühsam wissen läßt, und was unsereins mitunter zu vergessen geneigt ist: Die da und viele andere werden von ihren Kerlen, auch wenn sie längst am Boden liegen, mit Stiefeltritten und dumpfen Faustschlägen zu blaurotgrünen Häufchen Elend reduziert. Immer und immer wieder, bis man auch im sicheren Kinosessel vor Wut kocht und zuckt, brandet irgendjemands Jähzorn oder Geilheit auf, beides gleichermaßen unberechenbar — und recht nah beieinander liegend sowieso. So war der Vater, der Stiefvater und überhaupt ziemlich jeder. „Tina“ Turner, „Thelma & Louise“, auch „Jeanne La Pucelle“, alles von Männern gedrehte Filme, lassen ausrichten: Während ihr, die Klassenkameradinnen, schon im Postfeminismus angekommen seid, ist für die da unten nicht mal das Mindestmaß an körperlicher Integrität gesichert, von sozialer Gleichheit oder Pagliascher Differenz erst gar nicht zu reden. Schwer zu sagen, ob da einfach das Verdrängte mit Macht wiederkehrt und also Gerechtigkeit stattfindet, oder ob wir solchermaßen letztlich doch auf einer subalternen Position im wahrsten Sinne des Wortes festgeklopft werden sollen.

Was sich in Maggies Leben (Crissy Rock) ereignet hat und sie zur Verzweiflung treibt: eines Tages ließ sie ihre vier Kinder allein zu Haus, schloß die Tür ab – und ein Brand brach aus. Als man sie aus dem Pub von der Bühne holte, war ihr Ältester, Sean, schon lebensgefährlich verletzt. Die Fürsorge verteilt die Kinder auf Pflegefamilien. Maggie holt drei von ihnen zurück, geht in ein Frauenhaus, aber dort können sie nicht bleiben. Sie geht zurück zu ihrem Kerl, wird wieder geschlagen, geht in ein Heim, bekommt die Kinder wieder abgenommen, verliert ihren Prozeß um das Sorgerecht und zieht, ein heulendes, brüllendes Wrack, mit Jorge in eine feuchte Neubauwohnung mit leicht faschistischen Nachbarn.

Jorge ist ein Verwandter von Fassbinders Ali, zärtlich, warm, treu; aber Fürsorge essen Seele auf. Immer wenn die beiden gebären, kommen die Sozialarbeiter wie Erinnyen und schnappen den Snapper weg, einmal sogar direkt aus dem Kindbett im Krankenhaus. Die Sozpäds, das sind blasse, zickige, höchstwahrscheinlich einsam masturbierende Jungens und Mädels, die erziehen, ermahnen, korrigieren und bessern wollen, was das Zeug hält. Draußen vor der Tür ist der Dschungel, und entsprechend ist dann auch von dem Tier die Rede, das seine Brut nicht im Stich läßt (Maggie schreit es Jorge ins Gesicht: „Nicht mich hättest du festhalten sollen, sondern das Baby!“).

Das ist alles irgendwie bedenklich; auch, auf welche enorme Zustimmung diese Klassenstudien aus England hier stoßen, gerade bei der sogenannten Kritik: Sowas gibt ja eine ganz neue Intellektuellen-Identität, jemand, der von draußen vor der Tür in die große Stadt und die Höhlen der Unterschicht gestolpert kommt und dort Wahrheit und Praxis findet.

Es bleibt allein Crissy Rock, wirklich ein Wunder an Schauspielerin, und das in ihrer erste Rolle! Sie war mal Kellnerin, mußte aber davon lassen, weil zu viele Gläser zu Bruch gingen dabei.

Ken Loach: „Ladybird, Ladybird“. GB 1993, 102 Minuten