Ein Votum für die kleine Anarchie

Serie: Berliner Gören '94 (zweite Folge) / Das Recht der Kinder auf Spiel und Entdeckung zerschellt am Alltag der Großstadt: Ihre Welt wird zunehmend eindimensional und entsinnlicht / Aufstehen für die Wiederkunft der Phantasie  ■ Von Detlef Berentzen

Tiergarten. Es schneit. Dick und fett. Das Kind streckt die Hand aus. Flocke um Flocke landet darauf und schmilzt. Das Kind macht große Augen. Staunt. Dann lacht es. Und läuft weiter. Läßt kleine Atemwölkchen hinter sich. Bleibt stehen. Und lacht wieder. Dem wartenden Vater ins Gesicht.

Der Vater hat sich Zeit für das Kind genommen. Und gelacht. Und er hat Grund dazu: Nichts freut mehr als ein Kind, das die Welt be-greift und staunt, lacht und spielt. Doch braucht es Zeit dazu. Und Raum. Und Eltern, die ihm beides geben.

7.00 Uhr. Früh am Morgen. Ein Wagen hält vor der Einfahrt. Die hintere Tür geht auf. Ein Kind springt heraus. Läuft los. Durch das Tor der Einfahrt läuft es in seine Kindertagesstätte. Ein wenig grau ist die, der Putz bröckelt ab, und im ersten Stock hängt ein Transparent aus dem Fenster: „Keine Stellenkürzungen. Wir brauchen Zeit für die Kinder.“

Zeit für Kinder. Sie ist knapp und kostbar in Berlin. Sie wird „auf Arbeit“ verbraucht, auf dem Arbeits- oder Sozialamt oder zur Kompensation von Streß: Die Eltern sind beschäftigt, haben zu tun. Der Ort, wo sie zu „tun“ haben, ist kein Ort für Kinder. Daher verfügt die Stadt über spezielle Plätze für ihre Gören. Diese Plätze sind Erlebnis-„Inseln“, zu denen die Kinder vom „Festland“ der erwachsenen Welt übergesetzt werden: die Krippe, die Tagesmutter, die Kita, der Kinderladen, die Vorschule. Der Spielplatz und der Freizeitpark. Und von allem gibt es zu wenig, sagt man. Weil: Es braucht mehr Zeit ohne Kinder.

Alles ist durchorganisiert. Alles ist geplant. Zugegeben: Der erwachsene Alltag der Stadt braucht Planung. Doch: Der kindliche Alltag braucht Spiel, braucht Bewegung und braucht Raum. Braucht das kleine Chaos. Je älter das Kind, desto mehr drängt es danach, den Raum seiner Explorationen auszudehnen, doch auf einmal steht es am Zaun seiner Kita, und seine Erzieherin muß ihm mitteilen, daß „seine“ Welt hier zu Ende ist. Die Welt da draußen bleibt außen vor. Aus versicherungstechnischen Gründen. Weil: „Aufsichtspflicht“ – entweder gehen alle gemeinsam oder: keiner. Wir verstehen das; zumindest versuchen wir es.

Das Kind begreift zwar nicht, doch reagiert es folgsam, weil ohnmächtig. Doch ist es nicht verloren. Es holt sich ein paar andere Gören und sucht sein Abenteuer woanders: Dort hinten, zwischen den Büschen des Gartens hat es sein Refugium. Zusammen mit ein paar anderen Kindern wird dort gekichert und gelacht. Das Kind hat wenigstens seinen Garten. Hinter der Kita. Einen etwas wilden Garten, den braucht es.

Wenn jetzt nur nicht die Frau käme und sagen würde, es sei Zeit, drinnen zu spielen. Mit dem Spielzeug. Gräm dich nicht: Geh nur, Kind. Die Frau hat recht. Pädagogisch sinnvolles Spielzeug wartet auf dich. Spielzeug, über dessen Wert ein altes Berliner Kind, der Walter B.(enjamin), befand: „Pedantisch über Herstellung von Gegenständen – Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern – die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu erkennen, daß die Erde voll von den unvergleichlichsten Gegenständen kindlicher Aufmerksamkeit und Übung ist.“

In der Hasenheide. „Laß das liegen“, kreischt die Mutter, „das ist bääh“ ... und zieht ihr Kind am Arm von den kleinen Steinen weg, von der Erde hoch. Hinter sich her, bis das Kind taumelnd ins Laufen kommt. Man kennt diese Situation. Seit langer Zeit. Und trat gegen sie an. Seinerzeit, als die ersten Kinderläden gegründet wurden. Antiautoritär und manchmal „Hoch die Rote Fahne“. Wie auch immer. Man hatte seinen Benjamin gelesen, druckte ihn gar für den Eltern-Verlag: „Zentralrat der revolutionären Kinderläden Westberlins“. Das ist vorbei.

Auch daß Kinderläden etwas Besonderes sind, ist vorbei. Viele gibt es davon in Berlin. Hunderte. Die Projekte rechnen sich für den Senat. Eigeninitiative ist billiger ... und bietet zumindest die Chance zu mehr Autonomie. Auch für die Kinder. Nicht zuletzt deshalb, weil die Zahl der Kinder pro Erzieherin geringer gehalten werden kann als in öffentlichen Einrichtungen.

Chancen für Kinder. Für mehr Bewegung, mehr Autonomie. Jetzt auch im Osten der Stadt. Chancen wohlgemerkt. Die Chance beispielsweise, qua Interesse und Mitsprache das hinter sich zu lassen, was der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz als Realität der vormals sozialistischen Kindergärten beschrieb: „Die Eltern hatten in der Regel kein Mitspracherecht, wie ihre Kinder betreut wurden, und es war bekannt, daß auch hierbei Expertenmeinungen vorschrieben, wie die Entwicklung eines Kindes zu laufen hatte. Eltern wurden gerügt, wenn ihre Kinder mit einem Jahr noch nicht „sauber“ waren oder Zeichen für „Eigensinn“ zeigten. Manche Kinder weinten und schrien stundenlang nach ihren Müttern, wenn sie in der Krippe abgegeben worden waren. Aber besondere Zuwendung und Zärtlichkeit waren untersagt, um nicht den Neid der anderen Kinder hervorzurufen.“ Das ist vier Jahre her, und es hat Ausnahmen von den barbarischen Regeln gegeben: Erzieherinnen, die ihren Kindern ein Lachen schenkten – und auch Zeit.

Dennoch: Im allgemeinen ging es nicht nach den Bedürfnissen der Kinder. Im Osten. Doch geht es jetzt darum? In Hohenschönhausen? In Wilmersdorf? Mitunter ja. In Initiativen, kleinen Zirkeln oft. Auch Erwachsene begreifen. Begreifen, daß Kinder Raum und Zeit für ihr Spiel brauchen. Begreifen sogar, daß sie nicht zum Ballast verkommen dürfen, den man nach dem Abholen aus der „Einrichtung“ einfach vor der „Glotze“ plaziert. Kinder sind für das – in der Regel angebotene – „Valium“ der Bildschirme viel zu schade ...

Ihre Welt wird zunehmend „eindimensional“, behauptet der Quakenbrücker Kinderpsychologe Eckhard Schiffer: „Alles, was mit Riechen, Schmecken, mit Sensomotorik, mit Bewegung, mit Sich-Austoben zu tun hat, alles, was erst eine komplette Erfahrung ermöglicht, bleibt außen vor.“ Ent- Sinnlichung nennt man das wohl. Deshalb will Schiffer aus allen Kindern wilde „Huckleberry Finns“ machen. Da werden sich manche Eltern „herzlich“ bedanken.

Man höre auf die Kinderärzte der Stadt: Teilleistungs-, Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörungen, Sprachentwicklungsstörungen – all diese Krankheitsbilder nehmen bei Kindern zu. Ihr Leben ist ein gestauter Fluß. Ihre Lebensenergie will fließen und findet kein Ventil. Ihre Körperlichkeit, ihr Drang nach Bewegung brandet gegen Asphalt und Beton. Selbst ihr Bedürfnis nach frischer Luft endet, im zarten Alter von zwei Jahren, oft genug, in dauerhafter „Rotznase“ und Verschleimung. Chronisch. Und eigentlich „normal“ für die Gören dieser Stadt, zuckt resigniert ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts die Achseln.

Berlin ist nun wirklich nicht für die Kleinen gemacht. Das könnte sich in Nuancen ändern: „Wenn wir mehr Geld hätten, mehr Mittel, eine bessere Lobby, all das ...“ antworten viele. Sie malen es auf Transparente und drucken es auf Flugblätter und haben recht: Eine Stadt, die vor jedem Investor und Miethai buckelt und in vorauseilendem Gehorsam Millionenzuschüsse lockermacht, eine Stadt, in der jeder Kran zum „Hoffnungsträger“ (Laurien) wird, sollte die tatsächlichen „Träger“ von „Hoffnung“ mit gleich hohen Mitteln subventionieren – ihre Kinder. Soweit das Argument, das kommen muß, das aber keine merklichen Folgen hat, auch dann nicht, wenn der zuständige Senator „sozialpolitische Jahrhundertaufgaben“ für die Belange der Kinder avisiert: Das „Jahrhundert des Kindes“, das Ellen Key vor 94 Jahren in Stockholm ausrief, geht zu Ende.

„Was kommt?“ – das interessiert. Und das wird nicht „mehr Geld“ sein. Auch nicht für die Kinder. Seien wir ehrlich: Was kommt, ist der Umbau dieser Gesellschaft – freilich durch die falschen Akteure. Mit abnehmenden finanziellen Ressourcen für Soziales und Kultur. Das ist schlimm. Die Zukunft der Kinder erzwingt es, diese Real-Perspektive abzulehnen – ebenso wie den Zwang, der Kindern (und nicht nur denen) abfordert, sich über Dinge zu definieren: über Nintendos, Game-Boys, Kinderprogramme und Schminkköfferchen für Dreijährige. Auch nicht über Kindermodeschauen und erst recht nicht über „toys are us“. Aufzustehen wäre für die Wiederkunft der Phantasie, gegen die Okkupation der Zeit, für die Möglichkeit des Abenteuers, der Begegnung, der Umarmung, für ein Lachen.

Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen der Kindheit und war Herausgeber der Zeitschrift „enfant T.“

Die nächste Folge erscheint am Montag nächster Woche.