Zögernd auf dem Weg zur Macht

Am kommenden Wochenende verabschieden Bündnis 90/Die Grünen ihr Wahlprogramm / Alle Zeichen stehen auf Rot-Grün. Nur die grünen Mehrheiten für ein regierungstaugliches Programm sind noch nicht in Sicht  ■ Von Matthias Geis

Zweiter Frühling bei den Grünen. Geht es nach ihnen, soll Ende dieses Jahres die rot-grüne Koalition auf Bundesebene stehen. „Kohl ablösen“, Start einer „sozial-ökologischen Reformpolitik“ lauten die Zauberformeln, die derzeit in der Partei kursieren. Um den Wiedereinzug in den Bundestag jedenfalls scheint sich acht Monate vor der Wahl niemand mehr ernstliche Sorgen zu machen – eine Selbstverständlichkeit. Allenfalls ob es zu einem zweistelligen Ergebnis reicht, gilt derzeit noch als fraglich.

Zur positiven Stimmung jedoch, die der Partei aus allen Umfragen und Prognosen entgegenschlägt, hat sie selbst wenig beigetragen. Welche politischen Initiativen haben die Grünen in den vergangenen drei Jahren gestartet, in welchen Debatten haben sie erfolgreich interveniert, wo die Kompetenz bewiesen, die ihnen im Oktober den Status der drittstärksten Partei garantieren soll? – Auf Bundesebene waren sie in den vergangenen drei Jahren kaum präsent, öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte ihnen am ehesten noch der Vereinigungsprozeß mit den Bürgerrechtlern aus der ehemaligen DDR. Darüber hinaus beschränkte sich die Politik der Bundespartei auf oppositionelle Presseerklärungen. Das politische Vakuum konnte auch die Bundestagsgruppe aus den neuen Ländern kaum füllen. Und wo diese – etwa bei den Themen Einwanderung, internationale Sicherheit, Blauhelme – Akzente zu setzen versuchte, war der Dissens mit der Partei programmiert.

Vertrauensvorschuß

Immerhin, die innere Befriedung der Bündnisgrünen ist gelungen. Der lustvoll ausgetragene Streit gehört nicht mehr zum garantierten Erscheinungsbild der Partei. Realpolitiker und Linke halten seit dem berüchtigten Parteitag von Neumünster den „Burgfrieden“. Doch daß sich Linke und Realos für ihr Stillhalteabkommen auf den kritikeindämmenden Herrschaftsbegriff aus der Wilhelminischen Ära einigten, ist mehr als eine ironische Pointe. Nimmt man die Parteitage seit Neumünster, dann scheint es, als habe die Einhaltung der innerparteilichen Friedenspflicht die Energien der Grünen weitgehend absorbiert.

Daß die Partei mehr zu bieten hat als die alternative Variante der Politikverdrossenheit, ist derzeit eher eine Hoffnung. Es ist in erster Linie das überraschende Aus bei den Dezemberwahlen 1990, das den Bündnisgrünen heute den entscheidenden Vertrauensvorschuß einträgt.

Den Unmut der Gesellschaft angesichts der problemreichsten, zugleich zähesten Legislaturperiode der Nachkriegszeit bekommen die anderen Parteien zu spüren. Die Grünen hingegen fungieren als Projektionsfläche für bislang Unerfülltes: für das Ende der politischen Stagnation und den Mut, die Nach-Einheits-Krise als Herausforderung für eine neue Reformära wahrzunehmen: „Reform der Politik, Politik der Reformen“ lautet denn auch das summarische Versprechen aus dem Programm für die Bundestagswahlen.

Das Umfragehoch für die Bündnisgrünen ist seit 92 konstant, doch daß die Partei langsam wieder mutig wurde, bis hin zum selbstbewußt bekundeten Regierungswillen, ist eine jüngere Entwicklung. Das ganze Jahr 93 hindurch setzten beide Seiten des grünen Spektrums noch auf die künftige Oppositionsrolle. Lediglich die Begründungen von Joschka Fischer und Ludger Volmer differierten. Volmer profilierte sich als lautstarker Kritiker des einzig möglichen Koalitionspartners und führte so – ohne es kategorisch auszuschließen – das Bündnis mit dieser SPD ad absurdum. Seine Rolle für die Grünen: „einzige Opposition“ – gegen die Radikalisierung der Mitte, gegen die Abschottung der Bunderepublik, gegen „Großmachtbestrebungen“ und „Remilitarisierung“. Das und der Anklang solcher Reden beim Parteivolk dürften Fischer in seiner damaligen Auffassung bestärkt haben, die Grünen insgesamt seien noch zu sehr Protestpartei und für eine Machtteilhabe in Bonn nicht reif. Während Volmer auf die „Petersberg-SPD“ eindrosch, standen Fischer die Petersberge vor Augen, die seine eigene Partei noch zu nehmen hätte, bevor eine Regierungsbeteiligung in Bonn realistisch erschiene. Eine rot-grüne Katastrophe wollte er nicht provozieren; also lautete seine Option bis zum vergangenen Dezember: oppositionelle Vorbereitung auf die Regierungsverantwortung – vielleicht schon 98.

Fischers Offensive

Seit Jahresbeginn ist alles ganz anders. Es war Fischer, der seine Warteposition aufgab und sich erstmals seit geraumer Zeit offensiv in die innerparteiliche Debatte einmischte; mit lange nicht gehörter Kritik an der Parteilinken, einem Plädoyer für grünen Realismus und verantwortliche Politik im Interesse eines rot-grünen Reformprojektes. Zuvor hatte er aus den eigenen Reihen Druck bekommen, vom Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Fritz Kuhn, der öffentlich das Ende grüner Selbstgenügsamkeit eingefordert hatte. Die linke Intervention für ein Wahlprogramm „grün pur“ sowie seine Erinnerung an die herbe Niederlage auf dem Bonner Bosnien-Parteitag trugen dazu bei, Fischer aus der defensiven Wartestellung herauszuzwingen. Letztlich dürfte seine Entscheidung jedoch von der Auffassung motiviert worden sein, daß die Partei dem Realitätsdruck, den sie zur eigenen Veränderung in Richtung Regierungsfähigkeit braucht, in der Opposition gerade nicht ausgesetzt sein würde.

Auf einem Strategiekongreß im Berliner Reichstag Mitte Januar schien die von Fischer ausgelöste Offensive für ein „realitätstaugliches“ Wahlprogramm im Interesse einer Reformkoalition 94 schon fast Konsens. Selbst die – entgegen der nachträglichen Legendenbildung – gut vertretene Parteilinke konnte an der realpolitischen Hegemonie der Veranstaltung nichts ändern.

Fischers Befreiungsschlag hat das Dilemma der Linken schlagartig offengelegt. Sie wirkt personell ausgezehrt. Führungsleute wie Ludger Volmer, der sich unter dem Druck des verordneten Integrationskurses von seiner radikaleren Klientel mehr und mehr entfremdet hat, eignen sich kaum mehr als Anführer eines entschlossenen innerparteilichen Konfrontationskurses. Doch entscheidender für die Schwäche der Linken ist die Tatsache, daß sie der Option einer bündnisgrünen Regierungsbeteiligung nichts Eigenes entgegenzusetzen hat. Weil die prinzipielle Festlegung auf die Oppositionsrolle längst nicht mehr mehrheitsfähig ist, schrumpft die Bedeutung der Linken auf die Rolle eines innerparteilichen Korrektivs. Doch selbst diese bescheidenere Funktion könnte sie nur dann wirklich wahrnehmen, wenn sich die radikaleren Grünen auch zutrauten, eine mögliche Regierungsbeteiligung wegen inhaltlicher Unzumutbarkeiten zu verhindern.

Kein linkes Koalitions-Veto

Verfügt die Parteilinke noch über dieses strategische Drohpotential? Zwar war und ist sie noch immer stark genug, Mehrheiten in programmatischen Einzelfragen oder triumphalistische Reminiszenzen wie den Bosnien-Parteitag zu organisieren; doch zugleich weiß sie schon heute, daß ihre jetzt in der Programmdebatte erhobenen Forderungen – offene Grenzen, Einstieg in den Bundeswehrausstieg, prinzipielle Absage an Blauhelmmissionen – in einem rot-grünen Regierungsprogramm mit absoluter Sicherheit nicht enthalten sein werden. Würde die Linke ihre Forderungen wirklich ernst nehmen und an ihre politische Durchsetzbarkeit glauben, müßte sie konsequenterweise auch die Zustimmung zu Rot-Grün an die Erfüllung dieser Punkte koppeln. Doch kein Linker wird den Parteitag ernsthaft auffordern, auch nur eines der umstrittenen Ziele zur Conditio sine qua non einer künftigen Regierungsbeteiligung zu erheben. Im Bedeutungsverfall des grünen „Knackpunktes“ spiegelt sich der Niedergang der Linken.

Die links dominierte grüne Versammlung jedenfalls müßte erst noch erfunden werden, die einem ausgehandelten rot-grünen Koalitionspaket die Zustimmung verweigerte. In Hamburg waren es die Realos um Krista Sager, die die Verhandlungen beendeten, als es ihnen mit Henning Voscherau zu bunt wurde. Derweil muß sich der Parteilinke Jürgen Trittin in Hannover von seinem gar nicht linken Regierungschef Schröder andauernd vorführen lassen. Vielleicht schafft es der niedersächsische Landesverband, der unter dem Enttäuschungsdruck der Regierungsbeteiligung weiter nach links driftet, die nicht linientreue grüne Frauenministerin Waltraud Schoppe ins Abseits zu stellen; doch daß die Niedersachsen, falls sie im März die Fünfprozenthürde überspringen, die Koalition in Frage stellen – wer glaubt daran? Linke Rhetorik – fehlende Konsequenz; nimmt man das Trittin- Modell, könnte man zu dem Schluß kommen, im Grunde seien die linken Grünen mittlerweile nur noch eine Spielart der Realos, die auf ihre radikale Pose partout nicht verzichten will.

So ist es nicht ausgeschlossen, daß die Linke auch auf dem Mannheimer Parteitag noch einmal rhetorische – und programmatische Erfolge feiern wird. Im Hinblick auf die Verhinderung einer möglichen Koalition im Herbst wären es zwar eher Scheinsiege. Doch auch die sind nicht kostenlos, weil mit ihnen der Öffentlichkeit weiter das grüne Doppelspiel von irrealer Programmatik und realistischem Bekenntnis zugemutet wird.

Schon zeigt sich im Vorfeld des Parteitages, daß die Realpolitiker um Fischer sich neuerlich wegducken, weil sie sich in der Außen- und Migrationspolitik ohnehin kein Parteitagsvotum für eine regierungstaugliche Politik zutrauen. Mit seiner Forderung nach einem Programm, das – unter der Annahme einer hypothetischen grünen Mehrheit – auch durchsetzbar wäre, hat Fischer zwar seinen Maßstab für die inhaltliche Auseinandersetzung entworfen; doch sieht es derzeit kaum danach aus, als wolle er wirklich darum kämpfen.

Taktierende Realos

Mehr als ein unrealistisches Wahlprogramm scheut Fischer die Gefahr einer spektakulären Niederlage. Schon übt er neuerlich den überlegenen Gestus dessen, der sich am Ende, wenn es wirklich darauf ankommt – in der Koalitionsfrage –, durchsetzen wird. Das wird er. Doch die neue Botschaft von den regierungsbereiten und -fähigen Grünen ist auf diesem Wege nur schwer zu befördern. Hier liegt das verbliebene Störpotential von Fischers innerparteilichen Widersachern. In der Reduktion grüner Willensbildung aufs Taktieren feiert die Linke ihre letzten Erfolge. Auf diesem Wege könnte es dann doch noch gelingen, die prognostizierte Attraktivität der Grünen beim Wahlvolk so weit zu minimieren, daß am Ende selbst Fischers starker Wille zur Koalitionsbildung nicht mehr ausreicht.