Vorwärts, und nicht zurück

Wie das düstere St. Petersburg zu pulsieren beginnt und Moskau den Rang abläuft  ■ Von Klaus-Helge Donath

Jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang die gleiche Prozedur. Der alte Donkosak steigt die Stufen zur Wehr der Peter-und-Pauls- Festung hinauf und schließt die Eisenpforte hinter sich. Kriegsveteran Siderow hat es vor zwanzig Jahren aus dem Süden Rußlands an die Ostsee verschlagen. Hoch oben auf der Wehr der Verteidigungsanlage hält er symbolische Wacht. Von hier schaut er über die Stadt. Ins heutige Zentrum und die Newa entlang hinaus zum Finnischen Meerbusen. Mit Papier und Zündpulver stopft er das betagte Geschütz aus Sowjetproduktion und zündet einen Blindschuß. Die Bürger wissen, sie werden bewacht. Veteranen wie Siderow verdienen sich offiziell ein kleines Zubrot. Die nicht deklarierten Nebeneinkünfte dürften ihnen einen sorglosen Lebensabend bescheren. Am meisten jedoch sättigt die friedliche Aussicht. Im Winter die eisdampfende Newa, die sich an dieser Stelle um die Wassili-Insel schmiegt. Vereinzelte Eisgänger, die den Weg in die Stadt abkürzen.

Die Piterburcher, Petersburger, Petrograder und zwischenzeitlich Leningrader wuchsen alle mit Blindschüssen auf. Unterm Zaren puffte es zweimal am Tag – zu Beginn und Ende der Arbeit. Im Oktober 1917 schoß der Kreuzer „Aurora“ blind in ein neues Zeitalter. Er gab das Zeichen zum „Sturm aufs Winterpalais“, der sich in der heutigen Geschichtsschreibung freilich weniger dramatisch ausnimmt: Als die Exkursion eines Vorhuthäufleins, das auf der Suche nach der provisorischen Regierung durch das Labyrinth der Eremitage irrte. Im kleinen Speiseraum machte es sie dingfest. Dann tat man sich erst mal im Weinkeller des Zaren gütlich. Denn mit Beginn des ersten Weltkrieges hatte Nikolaus I. einen unverzeihlichen Fehler begangen. Er drehte den Landesverteidigern den Schnapshahn zu. Motivation war nie recht Sache russischer Herrscher.

Keine Aufträge für die Rüstungsschmieden

Feierabend. Durch die Kälte der blitzartigen Dämmerung verlassen die Arbeiter die Festung. Noch heute beherbergt sie die Münze der Stadt. In diesen Tagen gibt es reichlich zu tun. Die Inflation fordert ihren Tribut. Schließlich rollt der Rubel seit kurzem. Aus Papier- wurde Hartgeld. Wolodja ist der einzige, der hinunter an die Newa steigt. Der 55jährige macht es jeden Abend. Unter dem Schutz der Festungsmauern hat er ein Loch in das zwanzig Zentimeter dicke Eis gesägt. Er geht Baden bei 25 Grad Frost und hat keine Eile, wieder in seine Sachen zu schlüpfen.

Die Petersburger seien ein wenig düster, eine strenge Konzentriertheit sagt man ihnen nach. Jeder russische Literat, der etwas auf sich hält, nahm sich dieses Themas an. Petersburg erscheint als die zurückhaltende, strenge und distinguierte Stadt des Geistes, der das bunte überschwenglich emotionale Moskau den Rang als Hauptstadt abgelaufen hat.

Das Stereotyp trifft heute nicht mehr so ganz zu. Petersburg pulsiert und wird immer bunter. An einschlägigen Orten gar wüster. Viel besser kann man sich hier amüsieren als im hochnäsigen aber langweiligen Moskau. Wirtschaftlich geht es der Stadt dennoch schlechter. Die großen Staatsaufträge für die Rüstungsschmieden bleiben aus. Facharbeiter und Wissenschaftler sind zum Müßigang verurteilt. Verzweifelt sucht Alexej die Hausnummer 35. Seit anderthalb Stunden kreist er am Stadtrand. Wo, verdammt noch mal, ist die Fabrik? Nirgends finden sich Hinweisschilder.

„Leninez“ ist keine gewöhnliche Fabrik und Alexej kein einfacher Fahrer. 54 ist er gerade geworden. Dreimal die Woche hält er vormittags Vorlesungen an der Universität. Er ist Professor für Telekommunikationstechnik und hat mehrere Jahre im Ausland zugebracht. Danach fährt er Taxi. Sein Gehalt reicht nicht aus. Er beklagt sich nicht. Im Gegenteil: „Es ist sehr schwer für uns, aber wir wollen nicht zurück. In zehn Jahren sieht alles anders aus“, sagt er unaufgefordert. „Lieber mehr strampeln, als den Mund ständig halten.“

Leninez ist ein hochprofilierter Rüstungsbetrieb. Raketentriebwerke stellt er her. Sein unauffindbarer Topos ist wohl kein bloßer Zufall. An der Pförtnerloge kommt die Erinnerung zurück. Die Wachhabende im blauen sowjetischen Einheitsdrillich fordert in strengem Tonfall die „Dokumente“. Kein Einlaß ohne autorisierten Begleiter. Andrej Rumjanzew ist schließlich zur Stelle. Er ist der Chefingenieur, der nach neuen Wegen sucht. Doch zunächst geht es zu Fuß die Treppen hinauf. Die Fahrstühle sind abgestellt. „Energieeinsparungen, zu hohe Kosten“, kommentiert der Enddreißiger, „nebenbei eine Maßnahme zur Gesundheitssteigerung des Arbeitskollektivs“.

Etwa die Hälfte der Produktion wird langsam umgestellt. Medizinische Apparaturen, ein Gerät zur Überprüfung der Herztöne bei Neugeborenen. Ein vergleichbares Instrument kostet im Westen 300, hier hofft man es für 100 Dollar auf den Markt bringen zu können. Außerdem läuft die Vorbereitung, um Krankenwagen und Rettungshubschrauber auszurüsten. Daran hapert es vor allem im russischen Gesundheitswesen. Der Aluminiumhanger des Hubschraubers läßt sich von Rumjanzews Arbeitszimmer aus sehen. Dahinter steht der Rohbau einer neuen Fertigungshalle. Doch vorführen möchte er den Hubschrauber nicht. Noch sei es nicht soweit. Der technische Direktor zeigt statt dessen auf die frisch erhaltene Ausschußware eines Zulieferers. Die Plastikteilchen sind alle fehlerhaft – wie früher. Offensichtlich wollte man am andern Ende sparen. „So ist die Mentalität ... Noch Jahre wird es dauern ...“, meint er kopfschüttelnd.

Dennoch geht es vorwärts. Die Erfolge der Nationalisten und Kommunisten bei den russischen Parlamentswahlen im Dezember lösten in Petersburg einen Schock aus. Im Unterschied zu anderen Regionen zog man hier Konsequenzen. 25 demokratische und reformorientierte Organisationen und Parteien schlossen sich zu einem Bündnis „Demokratische Einheit“ zusammen. Ihr Vorsitzender ist der 37jährige Igor Soschnikow. Ihr gehören eine Reihe berühmter Kandidaten an wie der Schriftsteller Alexej Tolstoi, ein Nachfahre des russischen Klassikers Lew Tolstoi.

Für die anstehenden Stadtparlamentswahlen will man gewappnet sein. Obwohl keine Gefahr eines nationalistischen Wahlsieges droht. Denn der demokratische Block „Wahl Rußlands“ ging in Petersburg mit knapp 60 Prozent als der eindeutige Sieger im Dezember hervor. Wie kommt es, daß die Reformer – anders als im übrigen Land – ihre Zwistigkeiten und Profilneurosen überwinden konnten? „Wir sind eine besondere Stadt, weltoffen, mit einer breiten Intelligenzija und vielen gebildeten Menschen. Außerdem befinden wir uns in gehöriger Distanz zu den Privilegien in Moskau“, erklärt Soschnikow. Er selbst war früher Kraftfahrer, heute besucht er eine Verwaltungsakademie. Im Stabquartier in der Ismailowskij-Straße, unterhalb der tiefblauen Kuppeln der Troitskij-Kathedrale, geht es noch recht provisorisch zu. Vieles erinnert an die ersten Schritte der demokratischen Bewegungen und Volksfronten während der Perestroika. Soschnikow rechtfertigt das Provisorium mit der Hoffnung auf ein stabiles parlamentarisches System.

Eine Stadt als Freilichtmuseum

Petersburg hat sein Gesicht ganz erheblich gewandelt. Soweit das möglich ist in einer Stadt, die einem Freilichtmuseum gleicht. Deren Silhouette kein Hochhaus zerreißt. In der die Menschen manchmal nur Dekor zu sein scheinen. Wo Beamte kleinlichst über die Einhaltung von Traufhöhen und Fluchtlinien wachten. Gerade die strenge geradlinige – selten kolossale – Architektur hat etwas Menschliches bewahrt. Doch der Schein beschönigt. Die Stadt hat wie ganz Rußland mit wachsender Kriminalität zu kämpfen. In der Nikolai-Kirche warten Angehörige um den Sarg auf die Segnung des Priesters. Die Gestalten im Hintergrund geben keine Rätsel auf, woher sie kommen und wer ihr Arbeitgeber ist. Die Einschußstelle auf der Stirn des Toten erübrigt den Gerichtsmediziner. Ein Aufsetzschuß. Offizielle Todesursache: „Ertrunken.“ Handwerkergilde – Mafia.

Am Apraxin Dwor, einer der Marktgegenden im Zentrum, begegnet man einem fröhlichen Häuflein junger Leute. An ihren Jacken heften Fotokopien der Angebotspalette: Pistolen der Marke Smith & Wesson, Reck und dergleichen. Ausnahmslos Westimporte. Über den Preis läßt sich handeln. „Lediglich Schreckschuß- und Gaspistolen!“ versichern sie. Wieder hat man es mit Blindschüssen zu tun ...

Wenn Siderow seinen Blick vom Winterpalais ein wenig nach rechts wendet, sieht er die goldene Spitze, den Wehrstachel der alten Admiralität. Die erste Werft der Stadt. Hier nimmt der Newskij- Prospekt, Boulevard und Hauptschlagader, seinen Ausgang. Schnurgerade verläuft er bis zum Moskauer Bahnhof, dort knickt er zum Alexander-Newskij-Kloster jäh ab. Die Planer hatten an beiden Enden gleichzeitig begonnen und den Schnittpunkt verfehlt. „Kaum betrittst du den Newskij, spürst du nichts anderes, als den Geruch des Bummelns“, schrieb Nikolai Gogol im 19. Jahrhundert und warnte die Flaneure: „Oh, traut diesem Newskij-Prospekt nicht! ... Alles Trug, alles nicht das, was es scheint!“

Die glitzernde Warenwelt ist zurückgekehrt, Banken und Aktiengesellschaften machen sich wieder breit. Cafés, Restaurants und Nobelhotels öffnen ihre Türen. Firmenschilder müssen nun auch wieder die kyrillischen Schriftzüge tragen. Die Stadtverwaltung reagierte schnell, um dem Vorwurf vorzubeugen, sie verhökere die Stadt an ausländisches Kapital. „Die Privatisierung ist in Petersburg am weitesten fortgeschritten“, erzählt Alexej Kudrin, stellvertretender Bürgermeister und Finanzchef der Stadt.

Mit 33 Jahren gehört er zur ganz jungen Politikergeneration. Rußlands Privatisierungsminister Anatolij Tschubais empfahl den Wirtschaftswissenschaftler für diesen Posten. Beide hatten früher zusammen an der Universität gearbeitet. Tschubais sei auch Petersburger, meint Kudrin, das erkläre, „warum wir hier weiter sind“. Bekannte – Kontakte – Seilschaften. Eigentlich verfolgte der ehrgeizige Bürgermeister Anatolij Sobtschak viel waghalsigere Pläne. Er wollte in der Nähe der Stadt eine Handelszone errichten. Petersburg sollte wieder zum Finanzzentrum Rußlands aufsteigen.

Wohin wendet sich Rußland?

Kudrin backt kleinere Brötchen: „Ich will nicht behaupten, wir wären weit vorangekommen. Aber ich bleibe optimistisch.“ Die Voraussetzungen seien einfach gut. Zwar sind ausländische Investoren an die Newa zurückgekehrt, aber wohl nicht in dem Umfang, wie man sich das im Bürgermeisteramt erträumt hatte. Durch die Vereinheitlichung des russischen Steuersystems dieses Jahr fallen rund ein Fünftel der föderalen Zuwendungen weg. Außerdem sinkt das Steueraufkommen in den Rüstungsbetrieben. Händeringend sucht man nach Geld. Kommunale Dienstleistungen sollen demnächst um das 50fache teurer werden. Die unermeßlichen Kunstschätze schlucken zu ihrer Erhaltung erhebliche Summen, die zur Hälfte aus dem Stadtsäckel bestritten werden müssen.

Als Peter der Große die Stadt 1703 auf Pfählen in das Sumpfdelta der Newa rammen ließ, war es ein blindwütiges Unternehmen. Er wollte Rußland an der Ostsee ein „Fenster nach Westen öffnen“, um den Anschluß an das fortschrittlichere Europa nicht zu verpassen. Der Adel und das einfache Volk haßten ihn dafür. Der Konflikt um die Orientierung Rußlands reichte bis in die eigene Familie. Zarjewitsch Alexander verschwörte sich gegen seinen Vater, der ihn eigenhändig knutete. Der Sohn starb. Das Bild „Peter d. G. verhört Zarjewitsch“ hängt im Russischen Museum unweit des Newskij, der seit seiner Entstehung das „radikale Gegenbild“ zum „wirklichen Rußland“ gewesen ist.