„Entscheidung wird verschoben auf sichere Zeiten“

■ Interview mit der (Ost-)Berliner Familienforscherin Jutta Gysi, die eine empirische Untersuchung über den Familienalltag im Bundesland Brandenburg durchgeführt hat

taz: Frau Gysi, die Zahl der Sterilisationen im Osten steigt drastisch, die Geburtenrate ist so niedrig wie noch nie zuvor in der Geschichte, immer weniger Ehen werden geschlossen. Ist das die private Verweigerung der Ossis gegen die deutsche Vereinigung?

Jutta Gysi: Das ist keine Verweigerung, sondern ein Beharren. Ostdeutsche beharren in ihrer bestehenden Familiensituation. Man trifft unter diesen Bedingungen keine weitreichenden Entscheidungen, deren Folgen sich nicht überblicken lassen – wie etwa die Geburt eines Kindes. Nehmen wir die jungen Leute, die, gäbe es die DDR noch, Mütter oder Väter geworden wären und längst einen eigenen Haushalt hätten. Die bleiben heute, wo immer es geht, in der elterlichen Familie. Dieses neue Beharrungsvermögen hat eindeutig wirtschaftliche Gründe. Eine Arbeitsstelle, eine bezahlbare Wohnung sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Familiengründung. Und die sind jetzt auch bei denen nicht mehr gegeben, die noch eine Arbeit haben.

Einst dachten die ostdeutschen Jugendlichen, die wichtigsten Bedingungen für eine Ehe sind Liebe und eine gute Partnerschaft. Heute müssen sie feststellen, daß die Conditio sine qua non ein sicherer Arbeitsplatz ist. Erst danach werden Entscheidungen relevant. Und auf die Hilfe von Staat, Regierung oder Parteien vertrauen die Ostdeutschen kaum noch, während sie sich in der DDR zumindest in dieser Hinsicht auf die Eitelkeiten des Staates verlassen konnten. Mit einem Kind würden gegenwärtig besonders die Frauen ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit aufgeben. Das gute Gefühl, sich selbst unterhalten zu können und Anerkennung im Beruf zu finden, sind Selbstverständlichkeiten für ostdeutsche Frauen.

Kinder sind in Ostdeutschland also nicht mehr gewollt?

Der Kinderwunsch in Ostdeutschland ist immer noch vorhanden, das bestätigen alle Analysen. Und er ist beinahe so stabil wie zu DDR-Zeiten. Es werden wie früher ein bis zwei Kinder gewünscht, 60 Prozent wollen sogar zwei. Die Zahl der Frauen, die sich gar kein Kind wünschen, ist gering.

Also handelt es sich um einen unterdrückten oder vielmehr aufgeschobenen Kinderwunsch ...

Genau. Wir können aus den Untersuchungen den Schluß ziehen, daß der emotionale Gewinn, der mit Kindern verbunden ist, sehr wohl gesehen wird. Aber eben auch die Nachteile. Der drastische Geburtenrückgang resultiert also nicht aus einem rückläufigen Kinderwunsch, Kinder werden jedoch als Kostenfaktor und Hindernis der Berufskarriere vor allem der Frau gesehen. Also wird die Entscheidung verschoben auf sichere Zeiten. Diejenigen, die schon ein Kind haben, sehen so viele Schwierigkeiten auf sich und die Kinder zukommen, daß sie sagen: Das muß nicht mehr sein. Die Schwierigkeiten fangen mit der Bezahlbarkeit der Kindereinrichtungen an und enden mit der Furcht der Eltern, der Nachwuchs könnte auf die schiefe Bahn geraten. Auch Heirat und Scheidung sind für die Ostdeutschen sehr viel riskanter geworden.

Aber doch nicht riskanter als für Westdeutsche ...

Westdeutsche sind da seit vierzig Jahren hineinsozialisiert. Deshalb sind in Ostdeutschland ja auch Scheidungen derzeit so selten. Trotz enormer Problemlage in den Familien gibt die Familie zur Zeit die einzige Lebenssicherheit. Jede Veränderung wird als riskant und teuer empfunden.

Nun zeigen die Sterilisationszahlen einen hohen Anstieg bei kinderlosen Frauen, also jenen, die sich für ein Leben ohne Kinder entschieden haben.

Sterilisationen sind ein wirklich schlimmer Indikator für die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland. Ich verstehe das bei Frauen, die ein oder zwei Kinder haben. Bei jüngeren, kinderlosen Frauen muß der Druck auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich so groß sein, daß viele von ihnen keine andere Möglichkeit sehen.

Aber in Kriegszeiten und nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands waren doch Unsicherheit und wirtschaftliche Not noch viel extremer. Dennoch wurden sehr viel mehr Kinder geboren als jetzt.

Das ist nicht vergleichbar. Damals handelte es sich für die gesamte Bevölkerung um die Beendigung eines grauenhaften Krieges und seiner Folgen. Heute betrifft der Umbruch ja nur den einen Teil der Nation, und für die Ostdeutschen ist es auch nicht ein solcher Neuanfang. Wir kommen eben nicht aus einer kriegszerstörten, sondern aus einer anderen Welt. Damals hatte man überlebt und wollte wieder leben. Damals ging es um Wiederaufbau innerhalb der allgemeinen Armut mit viel Hoffnung und Optimismus. Da hieß es, das nächste Kind füttern wir auch noch durch. Man darf auch nicht vergessen, daß es damals noch nicht die Verhütungsmöglichkeiten gab, die wir heute haben.

Viele Sozialwissenschaftler meinen, das wird sich alles zeitverzögert auf Westniveau einpendeln.

Das ist eine Platitüde, die die Hilflosigkeit der Sozialwissenschaft ausdrückt. Langfristig geht es in Ostdeutschland sicher um eine Angleichung an westliche Lebensmuster. Aber hier ist die DDR-Prägung schockartig auf westliche Lebenswelt und Werte geprallt. Und bei einem solchen Zusammenstoß gegensätzlicher Prämissen weiß man nie, mit welchen Besonderheiten noch zu rechnen ist. Die Angleichung wird weder schnell noch linear verlaufen. Ich bin sicher, daß es in diesem Transformationsprozeß in den kommenden Jahren noch manche Überraschung geben wird.