Tod, Teufel & das Danach

Berlinale 94: Die Jury ging auf Nummer Sicher, die Zuschauer auf Entdeckungsreisen in allerhand Hinterzimmern  ■ Von Mariam Niroumand

Was vom Festival übrig bleibt: Zunächst, wie gehabt, das Gefühl, in allerhand Geschichten hineingezogen worden zu sein wie in zwielichtige Hinterzimmer, einige unfreiwillige Lektionen erteilt, aber auch einige kleine Päckchen zugesteckt bekommen zu haben; Portionen, die als Wegzehrung herhalten können. Komischerweise bleibt am präsentesten ein Film, von dem ich nur einen Auschnitt zu sehen bekam: Bela Tarrs „Satanstango“ zeigt, im Gestus eines „letzten Films“, einige letzte Menschen irgendwo auf dem Land in Ungarn, die sich in ihrer finsteren Kaschemme zu immergleichen Akkordeon-Klängen stolpernd umeinander drehen und drängeln. Ein Kind quält seine liebste Katze, und legt sich dann neben ihre Leiche, um am selben Rattengift zu sterben. Einer wiederholt: „Ich trotte, ich trotte, ich trotte“; jede einzelne Szene ist zugleich unerträglich lang und bleibt dennoch roh und aufregend.

Film Pur

In großer Ruhe — statt in einer dicken klebrigen Geschichte — sind hier alle Themen komprimiert, von denen diese Berlinale heimgesucht zu sein schien: Tod und Teufel und das Danach; Glaube, Liebe, Hoffnung und das Danach; und dann natürlich, wie bei jedem internationalen Filmfestival, die „Standortfrage“: Von wo aus darf wer welche Fragen stellen, wer darf wen betrachten und beforschen; „D'Est“, Chantal Akermans erfrierende Moskau-Expedition, ist in umgekehrter Richtung noch nicht denkbar, auch und gerade wenn die Leningrad-Cowboys es mit aller Macht und überschießender Haarkunst versuchen. Der Silberne Bär für den russischen Beitrag „Im Namen des Hundes“ folgte diesem Diktum: Der Osten darf bestenfalls den eigenen Untergang beschreiben; besonders gern werden offenbar elegisch-machohafte Versionen wie diese gesehen.

„Satanstango“ hat eine fast vergessene Möglichkeit in Erinnerung gebracht: eine Berlinale, die auch einmal Film pur zeigt, den Zuschauer Auge in Auge läßt mit einem von bildlichen Erfordernissen diktierten Rhythmus, unbekannten Grautönen, Minimal Art. Weil man wenigstens ein bißchen anfangen muß, in diesem Film zu leben, dauert er 450 Minuten. Wenn „Satanstango“ nicht bald in mindestens fünf Off-Kinos zu sehen ist, haben die's wirklich vergeigt.

Apropos Minimal Art: Das Schöne an Alain Resnais' „Smoking/ No Smoking“ war eben, daß den Schaupielern, der Regie und den Zuschauern ausgiebig die Möglichkeit gegeben wird, zu verfolgen, welche Wirkungen hauchzarte Kontingenzen auf das Gesamtgefüge haben.

The Players

Nicht ob sie ihn liebt oder nicht liebt, ist entscheidend, sondern ob sie nach den „Players“ (doch ein kleiner Gruß an Altman?) greift oder nicht. Darin liegt natürlich ein fast lutherischer Fatalismus: Daß diese Winzigkeit den Verlauf ihres Lebens beeinflußt, wissen die Protagonisten nicht, und sie können auch nichts dagegen ausrichten, daß sie mit egal welcher Option letztlich in irgendeinem Verhängnis landen. Aber während dieser Geworfenheit etwas Konservatives anhaften mag, ist der Kunstgriff ein Befreiungsschlag: In dreistest artifizeller Manier, ein bißchen wie bei den fotorealistischen Malereien von Chuck Close, suchen ganze zwei Akteure nach neun Personen und X Genres; bis am Schluß das Kino und seine Tricks splitterfasernackt da liegen. Verschämt gab die Jury Alain Resnais eine kleine Anerkennung für seine „Hervorragende Einzelleistung“ — ein Bär war natürlich nicht drin.

Minimalistisch war auch Tsipi Reibenbachs Porträt ihrer Eltern, zweier Auschwitz-Überlebender, unter dem viel zu schweren Titel „Choice and Destiny“. Die Wiederholung der immergleichen Gesten beim Essen und Wegräumen zeigt dem Zuschauer mehr Spuren des Lagers, als in Polen heute zu finden sind; und gerade die Redundanz versichert die Regisseurin der Existenz ihrer Eltern.

Wo wir schon bei Religion sind: Viel gleißendes Licht war zu sehen, das in vielerlei erhellte Gesichter fuhr. Manche, die nach der Apokalypse als unerschrockene Untote durch die Lande wankten (Fearless“), andere wieder, die nicht einfach als Kinder irgendwo in den Tag hinein leben dürfen — nein, sie müssen es in höherem Auftrag tun (div. Buddhas). Irgendwie muß so ein gewisses Surplus ins Leben. Die Jeanne d'Arc (in Rivettes „Jeanne la Pucelle“) hingegen, bei der man naturgemäß auf allerhand Höheres gefaßt war, erscheint schlicht als zarte, größenwahnsinnige, schmunzelnde und zugleich zickige Person, die eher ein inneres Zwiegespräch zu führen als einer Donnerstimme von oben zu lauschen scheint.

Deutschland, bleicher Vater: Es ging in allerhand Filmen um Erziehung, nicht nur bei den Buddhisten (gerade der arme Anthony Hopkins soll ja ständig von irgendwelchen starken Frauen wie ein Gefrierhühnchen aufgetaut werden). Aber nirgendwo wird so nachhaltig erzogen, belehrt und entwicklungsromant wie bei uns im Kino. Da hilft auch nichts, daß man Komödie drüberschreibt: Hörbiger muß bei Reinhard Münster lernen, daß Zicken allein nicht glücklich macht, Juhnke muß lernen, daß er'n Schlappschwanz ist (wie übrigens, mit Ausnahme von Detlef Buck, alle Männer in „Alles auf Anfang“); Kaminski, das Stasi-Opfer in „Der Blaue“ muß auf jeden Fall lernen, daß wirklich alle Menschen fies sind (und daß er ein Schlappschwanz ist, weil man eben nicht wirklich potent und gut zur gleichen Zeit sein kann); und der Heiner aus „Abschied von Agnes“ muß in seinem versifften Spitzweg- Interieur lernen, daß Stasi und sexueller Eskapismus eins sind. Von Politik keine Spur, von Komödie auch nicht. Es war zum Heulen.

Fatale Frauen

Der Flurfunk ließ sich dahingehend deuten, daß, wer Lust hatte, dieses Jahr auch allerhand „Gender Studies“ betrieb. So waren die meisten Jungs ziemlich angetan von „Floundering“, einer Art Sesamstraße für Kurzzeitparanoiker, in der ein netter blonder Angelino die ein oder andere schwarze Stunde erlebt — auf dem Fahrrad unter blauem Himmel mit Koks und schöner Mucke, versteht sich —, um dann schließlich von einer kleinen Cutsie im Wagen mit einem Blow Job getröstet zu werden. „What's so funny about peace, love & understanding“ lautet die völlig berechtige Abschlußfrage.

Unterdessen zeigte die amerikanische Dokumentaristin Allie Light vor einem restlos ausverkauften Atelier am Zoo ihren Film „Dialogues with Mad Women“, den ersten wirklich gelungenen „Psychiatriefilm“, den ich kenne (wenn man mal von den entsprechenden Episoden aus Jane Campions „Angel at My Table“ absieht). Gezeigt wurden, in wirklich berückender Schönheit, Gespräche mit mehreren Frauen (unter anderem auch der Regisseurin selbst), die irgendwann einmal in ihrem Leben wahnsinnig geworden waren. Alles war präsent, ohne daß die Regisseurin allzuviel inszenieren mußte: Eine Ambulanz, die von Pasadena nach Hollywood fährt, verschlossene Kliniktüren; die strahlende Schönheit eines in der Manie erworbenen Kleides; und die Panik, die unter dieser Hochstimmung lag; die grauenhaften Stunden mit dem Vater auf dem Dachboden, dem Arzt, der eigentlich eher Voyeur war; der Profi, der geholfen hat (und noch immer hilft), etc. Man kann, so hörten wir, von dort zurückkommen, ohne sich durch Zwanghaftigkeit oder Verschwiegenheit zu schützen. Es wird viel gelacht, ein bißchen geweint und ein bißchen gespielt: Sarah, eine Art Amazone wieder Willen erzählt, wie sie sich in Frauenkleidern als „Drag Queen“ fühlt — und sieht dann, mit Lippenstift, Auschnitt usw. auch tatsächlich wie ein wunderschöner, femininer Mann aus.

Dieser Film, zusammen mit dem Porträt der New Yorker Komikerin Sandra Bernard, die noch als Playboy-Häschen ein Schandmaul trägt (aus dem wiederum Erzählungen über den Blow Job fallen, den sie von ihrer Freundin im Auto bekommen hat), gehört wohl zu den kleinen Lichtern, die unsereins im Nebel des Postfeminismus aufblitzen sieht. Die Strategie ist: zeigt eure Wunde, aber als Kainsmal; redet unverständliches Zeug, verwischt die Spuren, seid nicht wiederzuerkennen. Der Impuls ist ein ähnlicher wie der hinter dem Bandamen Niggers with Attitude; Sandra Bernhard ist ein Faggot, aber eben auch eine Lady, so wie man sie früher ab und an noch in Hollywood sah. Wer weiß, wo das alles endet.

Gewonnen hat, wir haben's euch ja gesagt, „In the Name of the Father“, die gallige Geschichte einer monströsen Ungerechtigkeit in Sachen England gegen Irland, plus Emma Thompson und ein fantastischer, mit Schlaghosen brillierender Danny Day Lewis: Gutes, aktuelles Politkino, Nummer sicher für jede Jury, und eine kleine Laus im Pelz gewisser schwarzer Roben des Vereinigten Königreiches.