Stell Dir vor, es geht, und Duisburg kriegt's hin Von Mathias Bröckers

Eines der besten Sachbücher der letzten Zeit war für mich „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor – Das Drama des deutschen Fußballs“. Der Autor, Helmut Böttiger, spürt darin der Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Fußballs nach und rückt als kulturelles und ästhetisches Phänomen ins Licht, was ansonsten bestenfalls soziologischen und politischen Betrachtungen anheimfällt und normalerweise dem standardisierten Sachbearbeiterton der Sportberichterstatter obliegt.

Spielkultur als Ausdruck und Spiegel gesamtgesellschaftlicher Befindlichkeit – so selbstverständlich das klingt, so selten gab es bis dato etwas darüber zu lesen. Was damit zu tun haben mag, daß die Kultur – Künstler und Intellektuelle – sich des Fußballs als Kultur erst annahm, als es mit der Kultur im deutschen Fußball fast schon vorbei war. Spätestens seit letzten Samstag wäre es mal wieder höchste Zeit, die Premierenberichte verschnarchter Theater- und Leinwandbühnen aus den Feuilletons zu kicken und im Kulturteil das zeitgenössische Drama schlechthin zu würdigen: der MSV Duisburg ist Spitzenreiter! Die Kellerkinder aus dem Revier, zu Saisonbeginn als klarer Abstiegskandidat gehandelt, führen den millionenschweren Ligazirkus an.

Rollmann – Notthoff – Wohlert, Hopp – Böger, Közle, Steininger, Schwartz, Reinmayr – Vastić, Weidemann. In Duisburg hat diese Elf seit Samstag denselben Kult(ur)status wie in Nürnberg seinerzeit die Aufstellung des 1. FC vom 27.1. 1968, die Peter Handke als Gedicht herausbrachte. Spätestens wenn der MSV am nächsten Samstag in München gewinnt, wäre die Sensation perfekt – und die Republik im Zebra-Fieber. Ein Verteidiger, der die Woche über bei Thyssen am Hochofen ackert, hält hinten die Kiste sauber. Ein Hippie, der ansonsten lieber Bilder malt, haut vorne die Dinger rein. Dazu neun weitere bis vor kurzem Namenlose. Und das Ganze trainiert von einem grünen Pazifisten. Hätten die Duisburger darauf gewettet, daß ihr windiger Alternativladen nach zweiundzwanzig Spieltagen vor den Bonzenkonzernen aus München und Leverkusen und dem ganzen Rest rangiert, wäre der Verein heute steinreich. Aber wer weiß, ob das nicht eher schaden würde: Was die Duisburger stark macht, scheint gerade ihre Bescheidenheit zu sein. Sie haben das Kunststück fertiggebracht, trotz negativen Torkontos an die Spitze vorzustoßen; so etwas gab es, zwölf Spieltage vor Saisonschluß, noch nie. Bahnt sich hier ein neuer Minimalismus an, eine neue Kunst der Einfachheit auf höchstem Niveau, neue Bescheidenheit als Mittel zur Meisterschaft?

Keine Frage: Die Lage des MSV im Superligajahr (nur sechs Punkte zwischen Platz eins und dreizehn) gleicht der von SPD/Grünen im Superwahljahr – was das Kicker- Kollektiv aus dem Pott derzeit vorexerziert, wird die Opposition auf politischem Parkett nachturnen müssen. Und nichts wäre trostloser, als wenn am Ende doch noch einmal das alte Denken obsiegt: die fetten Bayern und der dicke Kanzler. Die Wende ist überfällig, so oder so. Wenn aber der Fußball vorführt, daß es auch anders gehen kann als mit ewigem Wachstum und stetigem Reibach, dann fällt auch der Rest gleich viel leichter. Stell Dir vor, es geht, und Duisburg kriegt's hin.