■ Der CDU-Parteitag in Hamburg ist eröffnet
: Anrennen gegen die Tristesse

Helmut Kohl zur Eröffnung des Hamburger Parteitages – ein einziges Anrennen gegen die triste Wirklichkeit: das Vertrauen in der eigenen Partei angeschlagen, der Historienschein der Einheit verblaßt, ein verläßlicher Koalitionspartner nicht in Sicht und alles zusammen reflektiert in den konstant-unerfreulichen Umfragen. Erstmals seit Jahren beginnt der Mechanismus parlamentarischer Demokratie wieder zu wirken, der die Defizite der Regierung in einen Bonus für die Opposition verwandelt. Um so plausibler klingt deshalb, drei Wochen vor der Niedersachsen- Wahl, die Domino-Theorie, derzufolge jede Wahlniederlage der Union den Abwärtstrend in der nächsten Runde weiter verstärken wird. Solcherart Krisenkumulation kann selbst Kohl, der Routinier des Wiederaufstieges, nicht einfach mehr wegstecken. Erst im Pathos der Schlußpassage seiner Hamburger Rede schien der Funken noch einmal überzuspringen. Doch fast sah es so aus, als feierten Kohls Parteifreunde mit ihren nicht enden wollenden Ovationen nicht den Wahlkampfauftakt, sondern schon das Ende einer Ära.

Wo die Krise zum Selbstläufer wird, kommt alles auf den Wahlkampf an. Er muß die triste Lage als Stimmungsfrage interpretieren, um dann mit Appell und Warnung vor Schlimmerem auszukommen suchen. Doch wo schon die Verdrängung der zermürbenden Situation gewaltige Energien absorbiert, gerät auch der Versuch propagandistischer Offensive nicht mehr recht überzeugend. Das hat Kohl in Hamburg vorgeführt. Der Hoffnungsmache seiner Rede fehlte die Souveränität, mit der er frühere Schwächephasen überspielte. Ersetzt wurde die Jovialität der Defensive, mit der er bislang verblüffte, durch offene Drohung. Rhetorisch räumt er der Partei die Gelegenheit ein, Kritik an seiner Person und Politik zu äußern – bis zum Ende des Parteitages. Zugleich gibt er der demagogischen Schraube gegen die SPD eine weitere Drehung. Doch so einfallslos es erscheint, die Sozialdemokraten – „die in der großen Stunde der Einheit im Abseits stand“ – auf dem Feld der Vergangenheit zu schlagen, so gezwungen wirkt der Versuch, das „Elend“ und die außenpolitischen Gefahren einer rot-grünen Koalition zu beschwören: Kohl in der Enge – seine Erfolgsaussichten schwinden, je offenkundiger er sich gezwungen sieht, über die Stränge zu schlagen.

Die Partei folgt nur zögernd. Kohls Autorität ist an Erfolg gekoppelt. Doch was für aussichtslose Situationen gilt, gilt auch für die Union: Sie hat keine Alternative, und allein in dieser Tatsache liegt Kohls Chance, wenigstens in seiner Partei den Mut der Verzweiflung zu wecken. Doch wie sollen der bloße Trotz des Hamburger Kohl, seine unmäßige Entschlossenheit und sein wolkiges „Wofür“ ausreichen, ihm noch einmal den Vertrauensvorschuß der WählerInnen zu verschaffen? Die egozentrische Formulierung jedenfalls, er wolle es jetzt noch einmal wissen, könnte in der Gesellschaft leicht als Aufforderung ankommen, die Bilanz zu ziehen, der sich Kohl im Interesse des Machterhaltes bis zum Schluß verweigern wird. Matthias Geis