■ Nach dem Ablauf des Ultimatums der Nato: Witali Tschurkins Mission
„Diesen Frieden fürchte ich mehr als die serbischen Granaten“ – so unrecht hatte Fuzag Gadzo, Bürger Sarajevos, nicht, als er am Wochenende einem amerikanischen Journalisten seine Meinung über die Effektivität des Nato-Ultimatums mitteilte. Tatsache ist, daß die Blockade Sarajevos auch nach dem Abzug des schweren Kriegsgeräts der Serben fortdauert. Massaker wie das Blutbad auf dem alten Markt Sarajevos sind für den Augenblick nicht zu befürchten. Aber das Kilo Zucker kostet weiterhin 80 Mark, und die Einwohner der Stadt haben nicht die geringste Bewegungsmöglichkeit. „Wir Menschen aus Sarajevo“, sagt Gadzo, „sind weiterhin eine bedrohte Spezies.“
Das Ultimatum galt ausdrücklich nur für die Hauptstadt, was es den serbischen Truppen erlaubt, ihre Panzer und Kanonen umzugruppieren und heute Bihać und Tuzla, morgen die östlichen bosnisch-muslimischen Exklaven anzugreifen. Wird die Nato mit ihrer Strategie der Fristsetzungen fortfahren und dadurch auch den anderen belagerten Städten Luft zum Atemholen verschaffen? Und würde eine solche Strategie den Friedensprozeß befördern?
Andrej Kosyrew, Rußlands Außenminister, ist da ganz anderer Meinung. Kategorisch lehnt er neue Ultimaten ab und verweist darauf, daß es russischen Vermittlerdiensten gelingen könnte, das gleiche Ziel ganz ohne Waffendrohung zu erreichen. Man sollte die Intervention der russischen Diplomatie nicht als billiges Manöver abtun, nur mit dem Ziel gestartet, die Früchte des Nato-Ultimatums zu ernten und wieder Präsenz als Großmacht zu demonstrieren. Witali Tschurkins, des russischen Chefunterhändlers, Mission gestattete es den serbischen und bosnisch-serbischen Kriegsherrn, ihren Rückzug als Ergebnis russisch-serbischen Einvernehmens zu feiern und ihr Gesicht zu wahren. So können sie, unbelastet von dem alten Trauma, stets den Krieg gewonnen, aber stets den Frieden verloren zu haben, weiter in Verhandlungen „eingebunden“ werden. Aber Verhandlungen mit welchem Ziel? Die russische Balkan-Politik orientiert auf ein zukünftiges starkes, mit der russischen Föderation befreundetes Serbien. Diese Politik schließt die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas in drei de facto selbständige Staaten und die anschließende „Heimkehr“ des serbischen Bosniens ins Mutterland ein. Also eine Variante des Owen-Stoltenberg-Teilungsplans.
Wenn die USA und das westliche Europa nichts wesentlich anderes im Sinn haben, so könnte die russische Intervention sich als durchaus hilfreich erweisen. Die von Kosyrew vorgeschlagene internationale Konferenz wäre dann hauptsächlich ein von den USA und Rußland gemeinsam gehandhabtes Instrument, mit dessen Hilfe die immer noch einzig legale Regierung Bosnien-Herzegowinas zur Annahme des Teilungsplans gepreßt werden könnte.
Über eins sollte sich die westliche Öffentlichkeit allerdings nicht täuschen: keine UNO-Verwaltung über Sarajevo wird verhindern können, daß die Idee eines multikulturellen, multi„ethnischen“ Gemeinwesens auf dem Boden Bosniens zu Grabe getragen werden wird. Die Kräfte, die einen autoritären, hochbewaffneten, „muslimischen“ Staat anstreben, werden triumphieren. „Sarajevo wird niemals zum multikulturellen Zoo werden, wo die Europäer dasjenige bewundern wollen, an dessen Zerstörung sie so nachdrücklich beteiligt waren“ (Eres Duraković, Minister für Erziehung, Sarajevo). Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen