Norwegen trug Trauer

Alles sprach für ein Langlauf-Fest, doch Italien versalzte den Gastgebern die Suppe  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Morgens um sieben, sollte man meinen, ist auch in Lillehammer die Welt noch in Ordnung. Weit gefehlt. Aus allen Ecken kriechen vollbepackte Rucksäcke, Kniebundhosen und rot-blaue Fahnenträger. Gestern war kein Tag wie jeder andere. Gestern war Staffel- Tag: 4 x 10 km. Langlauf wohlgemerkt, wo man, genau besehen, nicht viel mehr sieht als Menschen, die sich auf zwei schmalen Latten den Hang hinauf und hinab mühen. Oder die sich wechselweise nach asiatischer Sitte zu verbeugen scheinen beim Anschieben ihrer Fortbewegungsmittel.

Von wegen. In Norwegen heißt Sport Langlauf. „Das macht hier jedes Kind“, sagt Johan Baumann, Präsident des Norwegischen Skiverbandes. Langlauf ist Nationalfeiertag. Und die Staffel ist wie in den USA die Super Bowl im American Football. Eher noch mehr. Eine Viertelmillion Zuschauer hatten Monate zuvor ihre Kartenvorbestellungen eingereicht. 32.000 finden im Birkebeineren- Stadion Platz. 150.000 oder mehr – wer weiß das schon ganz genau? – haben sich entlang der Loipe plaziert.

Ausnahmezustand. Die Busse platzen bereits drei Stunden vor dem Start aus allen Nähten. Quälen sich die Straße von Lillehammer hinauf. Menschen eilen durch die Storgata. Die Fußgängerzone wird zur Wall Street. Die begehrten Tickets gehen weg – für 600 statt 40 Mark. Es wäre der richtige Moment zum Einkaufsbummel. Endlich sieht man Schaufenster, nicht nur bemützte Rückenfronten. Die Geschäfte haben noch geschlossen. Selbst wenn sie geöffnet wären, würde es keinen interessieren. Der Weg geht bergan. Die meisten schleppen ihre Skiausrüstung mit. Unterwegs und an der Piste sieht man sie campieren, die Gestänge ihrer Rucksäcke zum Sitz ausgeklappt, heißdampfenden Kaffee schlürfend.

Sofern sie nicht bei minus 20 Grad im Zelt übernachtet haben. Wie Thor und Sigurd, eng aneinandergekuschelt. Die Mützen über die Ohren gezogen, Schichten von Textilien übereinander, um die Kälte nicht den Weg auf die Haut finden zu lassen. „Wir wollen dabeisein“, sagt Thor, als er versucht, aus dem gefrorenen Tetra-Pack Apfelsaft ein paar Tröpfchen Flüssiges zu pressen. Vorne dabei, wenn Vegard Ulvang und Björn Dählie, die beiden Nationalhelden, vorbeihetzen. Sie so anfeuern, daß Dählie hernach wieder sagen wird: „Ich habe meinen eigenen Atem vor lauter Jubel nicht mehr gehört.“

So kommt es auch. Fast. Die Menge tobt, als Dählie um 12.09 Uhr ins Birkebeineren Stadion sprintet. Silvio Fauner (25), dem Youngster im Oldie-Team der Italiener – Maurilio De Zolt (43), Marco Albarello (34), Giorgio Vanzetta (36) – auf den Fersen. Noch nie in den letzten drei Jahren hat Italien Norwegen besiegt. Ewiger Zweiter – in Falun bei der WM '93, in Albertville '92, in Val di Fiemme bei der WM '91.

Und gestern? Bleibt Dählie, dem „Außerirdischen“ (Jochen Behle), die Ehre versagt, sich das vierte Gold im vierten Rennen zu holen. Den Finnen Jari Isometsae und den Deutschen Johann Mühlegg hat der „Mann mit der Pferdelunge“ (Bundestrainer Georg Zipfel) hinter sich gelassen. Und dann? Am Schluß fehlen Zentimeter. Fauner reißt die Stöcke in die Höhe, fabriziert zwei Luftsprünge in laufender Fahrt – der Menge bleibt das Johlen wie ein dicker Kloß im Hals stecken. Schlagartig lassen die Abertausenden Fahnen ihre Flügel hängen. „Forza Italia“, skandiert eine kleine italienische Fangruppe. Ihr Jubel ist überall zu hören. Im Stadion ist es ansonsten totenstill. Das Volksfest? Ein Trauertag.

Als Sture Sivertsen, Vegard Ulvang, Thomas Alsgaard und Björn Dählie Mikrofonen ihre Niederlage zu erklären suchen, nehmen sich die italienischen Altmeister gegenseitig auf den Arm, wissen nicht, wohin mit ihrem Freudentaumel. Den Norwegern bleibt als braven Wikingern nur die Rolle, fair den zweiten Sieger zu mimen. Die Niederlage als vermeintlichen Gewinn zu kaschieren. Alsgaard: „Wir wußten, daß die Finnen und die Italiener stark sind.“ Trainer Inge Braathen: „Die Besten haben gewonnen.“ Das Publikum sprach eine andere Sprache.