Stil, Industrie und weinende Witwe

„KINtop“ – Jahrbücher zur Erforschung des frühen Films beschreiben an Fundstücken, die seit Jahren niemand mehr gesehen hat, wie Technologie, Gebärdensprache und Unterhaltungscodes sich zueinander verhielten  ■ Von Christoph Asendorf

Für die Rezeption von Stummfilmen schienen den Zeitgenossen drei Faktoren besonders bedeutsam, die nichts unmittelbar mit den Bildern zu tun haben, aber deren Wahrnehmung beeinflussen: die Stummheit der Darbietungen selbst, die hinzugefügte Musik und die Sprache der Gesten. Béla Balasz etwa versuchte die Rätsel der „besonderen Filmatmosphäre“ dadurch zu lösen, daß er sie von der Welt des sprechenden Menschen unterschied: Während hier, in der alltäglichen Realität, die stummen Dinge viel unbedeutender seien als der Mensch, werden sie in der gemeinsamen Stummheit des Films „mit dem Menschen fast homogen und gewinnen dadurch an Lebendigkeit und Bedeutung“. Die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt fallen, beide gehören einer Welt an.

Unter diesen Umständen spielt für die Vermittlung des Handlungszusammenhangs die Musik eine wesentliche Rolle. Als Jean- Paul Sartre sich an die Kinobesuche in seiner Kindheit erinnert, an die Jahre um 1912, als das Kino noch eher in die Sphäre der Jahrmärkte und Varietés gehörte, da beschreibt er, wie das Geschehen wesentlich über das Spiel der Klänge in ihn eindrang: „Die weinende junge Witwe auf der Leinwand, das war nicht ich, und trotzdem hatten wir beide nur eine einzige Seele, nämlich im Trauermarsch von Chopin... Wir verständigten uns durch die Musik, es war das Geräusch ihres Innenlebens.“ Sartres Äußerung indiziert etwas, was im Prinzip bis heute gilt: Das Kino macht jede Musik zur Programm-Musik.

Und die Sprache der Gesten, die stumme Kooperation der Menschen im Film, erklärten manche der frühen Kritiker mit dem Verweis auf die schweigende Kunst der Pantomime. Das war so hilfreich wie historisch entkonkretisierend. Denn die Gebärdensprache im Stummfilm ist ebenso ein Spiegel der veränderten Kommunikationsbedingungen in der modernen Großstadt, daß heißt des Übergewichts der optischen Wahrnehmung und des Stakkatos der schnell zu verarbeitenden Eindrücke. Dieser Fragmentierung der Kommunikation korrespondieren die Projektionen – weniger als Ausdruck einer erneuerten Pantomime, sondern als Vergegenwärtigung des gesellschaftlichen Apparatcharakters in einer Zeit, in der, so Friedell 1912 im „Prolog vor dem Film“, alles „kurz, rapid, gleichsam chiffriert“ erscheint. Die knappe Geste ersetzt ganze Handlungsfolgen, und diesen Verhaltensmodus übt das Kino ein.

Auffällig bei all den frühen Interpretationen ist, daß sie wohl die Gattung „Film“ einzuordnen bemüht sind und Wirkungsmechanismen erklären, sich aber nicht um die einzelnen Werke kümmern. Das gilt ebenso für die späteren Filmgeschichten, welche die Zeit bis 1920 eher als obskure Vorgeschichte abbuchen, aus der nur wenige Gipfel aufragen. Und genau hier setzen die „KINtop“-Jahrbücher an. Die Herausgeber weisen darauf hin, daß die meisten der frühen Filme seit einem Dreivierteljahrhundert kaum jemand mehr gesehen hat. Doch nach einer Folge von Kongressen und Retrospektiven seit den späten siebziger Jahren beginnt sich das Bild zu ändern, beginnen die Filmwissenschaftler den wiederentdeckten Kontinent „zu vermessen und zu kartographieren“. Die einzelnen Bände von „KINtop“ sollen jeweils einem Schwerpunktthema gewidmet sein; dazu kommen Einzeluntersuchungen und Beiträge zu gerade aktuellen Debatten. Mit der Dokumentation der Stummfilm-Sammlung von Joseph Joye wurde zugleich eine Reihe von Materialbänden eröffnet.

Die ersten beiden Jahrbücher, 1992 und 1993 erschienen, zeigen deutlich Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts. Band eins ist dem frühen Film in Deutschland gewidmet und bietet ein disparates Bild. Souverän untersucht Thomas Elsaesser „Stil und Industrie“ des wilhelminischen Kinos. Zwei Arten der Filmproduktion stehen sich gegenüber – die à la Skladanowsky als des Vorführer/Unterhalters und die aus späterer Sicht ungleich bedeutsamere von Oskar Messter, der ein Systembauer ist wie Edison im Bereich der Elektrotechnik. Messter sah, so Elsaesser, „in den Aufzeichnungsmöglichkeiten des bewegten Bildes ein gesellschaftliches Potential, das weit über die Unterhaltung hinausging. Er rückte damit sehr viel näher an die ,audiovisuelle Revolution‘ heran wie wir sie heute erleben, in der die Verwendung von Video zur Informationsbeschaffung, zur Überwachung und zu nachrichtendienstlichen Zwecken, zur Aufzeichnung und zur Simulation ebenso wichtig ist wie die Unterhaltung... Durch die Verbindung von Hardware (Produktion eigener Projektoren und Kameras) und Software (Filme) führte er dabei auch das Prinzip der vertikalen Integration ein.“

So sehr dies Fragen von allgemeinem Interesse sind, die auf eine interdisziplinäre Kulturgeschichte des frühen Films hinauslaufen könnten, so wenig vermögen die folgenden Beiträge zu scheinbar beliebig gewählten Themen dieses Level zu halten. Akribie oder schon Pedanterie in Kombination mit schwerfälligen Begriffsapparaten vernebelt das Bild wieder.

Den sympathischen Eindruck entschieden größerer Kohärenz hinterläßt der Méliès-Band. Einleitend wird ein Text des Regisseurs aus dem Jahr 1907 wieder zugänglich gemacht, der eine filmhistorische Quelle erster Güte ist. So erzählt Méliès von der zufälligen Erfindung des Stopptricks, als durch einen technischen Defekt eine Aufnahme unterbrochen wurde.

In dieser Zeit hatte sich die Szene natürlich verändert: „Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine–Bastille sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden. Der Trick durch Ersetzen war gefunden, und zwei Tage später begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Menschen und Dinge plötzlich verschwinden zu lassen.“ Nach dieser Eröffnung entwerfen die Beiträge ein vielschichtiges Bild von Méliès als Künstler. Er verwischte die Grenzen zwischen Utopien eines Jules Verne und solchen Moden wie Magnetismus und Spiritismus, und gerade diese Ambiguität, das Schillern zwischen Technik und Phantastik, macht ihn als Figur seiner Zeit faßbar. Eine Anfrage aber, ob Méliès mit „Le Voyage dans la lune“ auch die Methode des „splashdown“ angeregt habe, die Landung von Raumschiffen im Wasser also, wie sie die Amerikaner später tatsächlich praktizierten, wird 1985 von der Nasa abschlägig beschieden.

KINtop – Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Früher Film in Deutschland, Basel/Frankfurt, 1992.

Georges Méliès – Magier der Filmkunst, Basel/Frankfurt, 1993.

KINtop – Schriften 1, Roland Cosandey: Welcome Home, Joey! – Film um 1910, Basel/Frankfurt 1993.