Sweet Sixteen

Schön, pathetisch und oft auch gewalttätig: Larry Clark hat „Die perfekte Kindheit“ fotografiert  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Wo es um Jugend und Kindheit geht, treffen die verschiedensten Interessen aufeinander: normierende, pädagogische, statistische, ökonomische, pädophile und meist das Interesse, anstelle der Jugend für sie zu sprechen. Larry Clarks großformatiger Band „Die perfekte Kindheit“ ist ein mimetischer Versuch über die Pubertät amerikanischer Jungs. Wie das Pinnwandensemble in einem Jugendzimmer verzichtet der Fotograf auf Erklärendes, um statt dessen auf Atmosphären zu setzen. Das mag skandalös erscheinen, stehen doch auf den ungefähr 180 Seiten des Buchs „sauber“ stilisierte Bilder narzißtischer Teenagerjungs neben „schmutzigen“ (nicht weniger stilisierten) Sexaufnahmen, Zeitungsausschnitten über jugendliche Mörder, Poppostern, Teenagerbriefen und raren Merksätzen, die sich Clark als Arbeitsanweisung über den Schreibtisch gehängt haben mag: „No explanation is necessary in these rooms no explanation is enough outside.“ Den beschwörend apodiktischen Satz könnte man sowohl auf die hermetisch-romantische Welt der abfotografierten Pubertät beziehen als auch auf die Zusammenstellung des Buches. Für den Betrachter gilt in jedem Fall der zweite Teil: Er soll sich nach draußen scheren (und staunen oder abwehren). Dort kann er dann mit seinem Gerede, das nie bis zum verklärten Selbstverständnis der Pubertanden reicht, fortfahren. Unweigerlich wird er in einer Gesellschaft wie der US-amerikanischen, in der die unnütze (nicht pädagogische, nicht kommerzielle, nicht emanzipatorische) Beschäftigung mit Sex an sich schon unter Verdacht steht, in die Fallen tappen, die das Buch dem Betrachter stellt. Wer nicht mit diversen moralischen Grundsatzfragen (darf der das, und wie hat der die Teenies dazu gebracht, so zu posieren, und wie alt sind die Jungs überhaupt?) das Buch grundsätzlich infrage stellt, macht sich zum Komplizen des immer schon Verdächtigen – Sex-Bilder – und begibt sich zudem auf ein vielfältig vermintes Gebiet aus eigenen schönen und blöden Erfahrungen, Sehnsüchten, Ängsten, Unsicherheiten, den immer lautstärkeren Forderungen nach „politischer Korrektheit“ und einer amerikanischen Prüderie, deren Prinzipien sich am deutlichsten (und obszönsten) wahrscheinlich im amerikanischen „Court TV“ zeigen: Dort werden nicht nur unter anderem Teenagermörder in Live-Berichterstattungen vermarktet, ihnen wird zudem noch jedes schmutzige Wort, das sie von sich geben, durch alberne Piepstöne zensiert.

Genug der endlosen Erklärungen (hin zu den Sachen.) „Die perfekte Kindheit“ ist eine Art poéme en prose. Es beginnt mit den vom Fernseher herunter fotografierten Gesichtern blonder, lächelnder Jungs mit schickem Popperhaarschnitt. Im Farbenmatsch verlieren sie ihre Konturen oder verschwinden im Raster der Bildzeilen. Der melancholisch-sehnsüchtige Blick von Clark versucht sie vor ihrem Verschwinden festzuhalten. Daß es sich um jugendliche Mörder handelt, die ihren Auftritt im privaten „Court-TV“ hatten, sei nur nebenbei erwähnt – es steht nicht in dem Buch –, wenn man's weiß, verstärkt es nur die Melancholie. Die TV-Aufnahmen der wirklichen Mörder korrespondieren mit den Sex-&-Gewalt-Variationen gestellter Posen: ein nackter Junge mit Popperhaarschnitt, der am Lauf einer Pistole leckt oder die glänzende Waffe gegen sich richtet.

„The criminal like the artist is a social displorer“ — Clark liebt die Gegensätze der schwarzen Romantik, die sich im einzelnen Foto oder in nebeneinandergestellten Bildern vereinen: das unschuldige Gesicht des jugendlichen Mörders, Zeitungsmeldungen über Teenagermörder („Nude kid kills parents. Kid blows brains out as he comes from a blowjob.“), oder Jungs, die sich während komplizierter Masturbationsakte versehentlich erhängten, naive Ratschläge für Eltern neben Unterleibs-Polaroidtorsos mit beeindruckenden Teenie-Erektionen (der verschwiegene Teil der amerikanischen Vater-Sohn-Geschichte sei die Furcht des Vaters, daß der Penis seines Sohnes größer sei als der eigene – so Clark), Pornoposen neben Teenstarpostern. Gern präsentiert er das Obszöne, das unter einer sauberen Oberfläche hervorlugt: einen hübschen Skateboard- Popper mit ein bißchen Schorf an den Knien und weißen Söckchen, der auf die Unterseite seines Skateboards die obszön-schöne Schwarzweiß-Kunstfotografie einer Frau montiert hat, die – von hinten fotografiert – nicht nur Möse und Anus beiläufig ins Licht hält, sondern fast neckisch den Betrachter dabei zwischen den Beinen hindurch anschaut.

Wie David Lynch in seinen besten Passagen unterläuft Clark dabei aber den reaktionären Kitsch vom Schrecklichen, Bösen, das unter der glatten Oberfläche der Normalität lauert. Die Posen, Stilisierungen, die der Fotograf von seinen Jungs verlangt und die sie ihm gerne oder erlebnishungrig gewähren, verweigern sich der katholischen Rigidität bataillscher Dogmatik (die in Deutschland über den Verlag Matthes & Seitz, Gerd Bergfleth und Bernd Mattheus ins Verkitscht-Reaktionäre abgedriftet ist). Die narzißtische Abdichtung (Adorno) wird zwar angestrebt, sie mißlingt jedoch. In diesem Mißlingen zeigt sich etwas Fragiles, Wehrloses und, nun ja: Schönes. Neugierig, unsicher (mit rotem Kopf oder nicht) probieren die Teenager diverse Posen aus. Oder lassen sie an sich ausprobieren, wie der hübsche, blonde Junge, der sich auf dreißig, größtenteils ganzseitigen Schwarzweiß- Bildern – der längsten „Sequenz“ des Buches sozusagen – von einer schwarzhaarigen Prostituierten sorgfältig einen blasen läßt. (Für

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ihn sei's das erste Mal gewesen, sagt Clark.)

Wer nur kurz hinschaut, wird Porno und Frauen oder meinethalben auch Jugendverachtung schreien; sobald man jedoch akzeptiert, daß der Fotograf und die Frau mit dem Jungen das dürfen, stellen sich die Bilder ein bißchen anders dar; als work in progress sozusagen, bei dem die Rollen klar verteilt sind: Der nackte Junge ist völlig passiv auf seiner schmalen Matratze; die Frau, die im Negligé zwischen seinen Beinen kniet und geübt an seinem Schwanz lutscht, ist aktiv.

Auf dem Eingangsbild sieht die Frau zudem so neckisch in die Linse des Fotografen, als wollte sie die gängigen Pornomuster, bei denen sich meist ein aus dem Heft gerichteter Frauenblick mit dem gierigen Blick des Porno-Users verbündet, parodieren. Die Fotos, die danach kommen, konzentrieren sich auf das Gesicht des Jungen und seinen ganzen Körper (was der gängigen heterosexuellen Pornopraxis diametral entgegenläuft, in der der Mann auf seinen Schwanz reduziert wird, während die Frau ein Gesicht behält). Manchmal verkrampfen sich die unbeschäftigten Hände, und sein Kopf geht leicht hoch, um in einer Mischung aus Augenlust und Kastrationsangst zu gucken, was die da macht; manchmal legt sich sein linker Arm stilvoll schmachtend übers eigene Gesicht oder flieht (hilfeheischend) zwischen ihre Beine. Die Möbel im Hintergrund sind mit Hippietüchern verhängt. Die Rippen des Jünglings treten hervor. Ein paar Fotos sind unscharf, verwackelt, um Lust zu bedeuten. Auf dem Schwanz spiegelt sich Licht, das aus dem Fenster hereinkommt. Ein Sukkulent hängt seine Blätter ins Bild. Oft changiert das Bild des Teenagerkörpers zwischen Leiche und Baby, das gesäugt wird anstatt zu saugen. Seine Augen sind durchgehend halb geschlossen. Wann er kommt, ist unklar; Sperma gibt's nicht; am Ende der dreißig Bilder guckt er glücklich und ein bißchen blöde wie jeder in höchster Lust wohl. Am Ende des Buches sind alle Teenagerjungs recht angegriffen, blaß, porig und unausgeschlafen. Die stilisierten schönen Gesichter sind durch nicht minder stilisierte angegriffene Gesichter ersetzt worden, und der skateboardfahrende Popper sieht so aus, als hätte er allerlei erlebt auf dem Weg durch das Buch.

Als schöner Kunstband ist „Die perfekte Kindheit“ perfekt; vielleicht zu perfekt. Denn Clark sichert sich durchaus ab: Er legitimiert sich vor der gefährdeten Jugend als ihr Genosse, wenn er seinen Aufnahmezettel einer Drogenklinik, auf dem seine recht imposante Drogenkarriere vermerkt ist, präsentiert, und er liefert tabulosen Sinnsuchern Sinn, wenn er ihnen das Bild einer Holztür hinwirft, an der – direkt neben Jesus- am-Kreuz – der Kinderbrief des Sohnes an den Vater hängt: „Dear dad. Sorry for being bad please forgive me.“

Larry Clark: „Die perfekte Kindheit“. Scalo Verlag, Zürich, 1993, 78 DM.