Das Land der langen Schlangen

Finnland vor dem Beitritt zur Europäischen Union: Export boomt, Inlandsverbrauch stagniert, Landwirtschaft kollabiert  ■ Aus Helsinki Reinhard Wolff

Das Land der tausend Seen ist in diesem Winter das Land der langen Schlangen. 3,50 Mark kostet ein warmes Essen bei der Heilsarmee, eine Mark mehr, wenn's mit Fleischbeilage ist. Und für immer mehr ist dies die einzige Möglichkeit, mit den 30 Mark Sozialhilfe, die es pro Tag, aber nur fünf Tage in der Woche, gibt, über die Runden zu kommen. „Neben denen, die schon immer zu uns kommen, wird täglich die Gruppe der Langzeitarbeitslosen größer, die sich vor einem Jahr nicht hätten träumen lassen, bei uns anzustehen“, erzählt Heilsarmee-Major Kalevi Hietanen: „Vor zwei Jahren lebten sie vielleicht noch in einer Luxuswohnung, und jetzt stehen sie für ein Essen und gebrauchte Kleider Schlange.“

Doch nicht nur die Suppenküchen boomen in Finnland. Die Börse tut es seltsamerweise auch. Im letzten Jahr verdoppelten sich die Aktienwerte an der Börse von Helsinki, und weltweit kam man hinter Hongkong auf den zweiten Platz beim Index. Und in diesem Jahr ist Helsinki sogar bislang weltweit einsame Spitze mit einer Hausse der Aktienkurse von durchschnittlich 25 Prozent. Dies vor dem Hintergrund einer anderen Boomzahl: der der Arbeitslosen. 22 Prozent war die letzte Marke, die gerade nach oben überschritten wurde. Und sie dürfte noch nicht die letzte sein.

Die boomenden Aktienkurse interpretieren die ÖkonomInnen als unübersehbares Zeichen für, eine Wirtschaftswende. Es gehe nach oben, auch wenn sich dies bei der Arbeitslosenrate noch lange nicht niederschlagen müsse.

Doch der Aufschwung ist wählerisch. Gefragt sind vor allem die Exportwerte. Denn es ist die Exportindustrie, die boomt, während der Inlandsverbrauch wegen der fehlenden Kaufkraft darniederliegt und auch keine Anstalten macht, sich zu bessern. Der steile Aufschwung der statistischen Kurve ist nur eine Folge der Talfahrt der letzten Jahre, die nunmehr tatsächlich gestoppt zu sein scheint: Seit letztem November steht kein Minuszeichen vor der Veränderung des Bruttosozialproduktes und der Produktionszahlen der wichtigsten Wirtschaftszweige mehr. Und das ist seit über drei Jahren das erste Mal wieder so.

Dabei wurde Finnland in den achtziger Jahren von den Wirtschaftspropheten der OECD geradezu als Industrieland der Zukunft gehandelt. Die Wirtschaft schlug einen Zuwachsrekord nach dem anderen, die FinnInnen konnten, was den Konsum anging, so zulegen wie niemand sonst in Nordeuropa. Doch der Einkaufsboom war auf Sand gebaut: auf geliehenem Geld. Als 1989 der Wohnungs- und Häusermarkt zusammenbrach – Wohnungsmiete ist in Finnland unüblich, statt dessen blüht der Markt der Eigentumswohnungen –, krachten schnell auch die übrigen Konsumentenkredite und danach praktisch das ganze Bankensystem zusammen.

Fast gleichzeitig wurde die Sowjetunion begraben, die einmal für ein Viertel des finnischen Exportmarktes gestanden hatte. Und wiederum gleichzeitig schlug die internationale Depression zu. Für Finnland bedeutete das zwischen 1990 und 1993 einen Rückgang des Bruttosozialprodukts von 15 Prozent und einen Anstieg der Arbeitslosenrate von 3,4 auf 20 Prozent.

Gleichzeitig boomt jedoch seit 1993 die Exportindustrie, ohne daß dies auf den Arbeitsmarkt durchschlägt: Im Schnitt lag der Zuwachs bei 15 Prozent, bei elektronischen Produkten bei über 30 Prozent. Der Arbeitsmarkt reagiert nicht, weil gerade die Exportindustrie die Wirtschaftskrise zum Rationalisieren genutzt hatte. So kann die Werftenindustrie einen Auftrag nach dem anderen einfahren und Nokia Zehntausende zusätzlicher Mobiltelefone produzieren, ohne mehr Arbeitskräfte einstellen zu müssen. Um die „Flexibilität zu wahren“, wie es so schön heißt. Wer noch eine Arbeit hat, denkt nur an die Finnnmärker in der Lohntüte, und daran, wie er sie behalten kann. So schlugen auch alle Versuche der Gewerkschaften kläglich fehl, nicht nur die Arbeitslosen auf die Straße zu bringen, sondern auch an die große Solidarität der Beschäftigten zu appellieren. Es werden Überstunden gefahren bis zur Erschöpfung, anstatt die wenige Arbeit auf mehr Menschen zu verteilen. Die Gewerkschaften hatten letztes Jahr nicht einmal genug Stärke, zu den üblichen landesweiten Tarifabschlüssen zu kommen. Statt dessen wurden nur lokale Abkommen geschlossen, deren Bedingungen faktisch das Kapital diktierte. Um jeweils rund zehn Prozent ist die Kaufkraft der LohnempfängerInnen in den letzten beiden Jahren real gesunken.

Die hilflose und sich selbst blockierende bürgerliche Koalitionsregierung trägt ein gerüttelt Maß Schuld an dem tiefen Fall. Aus Angst, sich zu sehr zu verschulden, wurden nötige Anschubprogramme verzögert, bis sie nicht mehr greifen konnten. Und das Geld, das man in der Staatskasse hatte, floß auch noch vorwiegend in die Sanierung des maroden Bankensystmes: acht Milliarden Mark kostete letztes Jahr die Arbeitslosigkeit den Staat, und zwölf Milliarden versickerten bei den Versuchen, den Banken wieder auf die Beine zu helfen. Um bei den öffentlichen Finanzen zu sparen, wurden Zehntausende aus dem Gesundheits-, Bildungs- und Fürsorgesektor entlassen und drehten dadurch die Arbeitslosenspirale weiter nach oben. Und da das ganze politische Leben seit Sommer letzten Jahres auf die Präsidentenwahlen fixiert war und sich nunmehr auf die Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr vorbereitet, wäre es verwegen, irgendwelche neuen Impulse aus Helsinki zu erwarten. Schlangen auch vor der Arbeitslosenvermittlung der Hauptstadt. Doch gibt es hier kaum etwas zu holen. Offene Stellen sind eine Seltenheit. Und die letzten Verschärfungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung bedeuten den automatischen Sturz nach 500 Tagen Arbeitslosigkeit: Die 30 Mark pro Tag an fünf Wochentagen. 150.000 bis 160.000 der 520.000 Arbeitslosen unter den fünf Millionen FinnInnen werden im Frühjahr auf diesem Niveau angekommen sein, das wirklich Armut in diesem Land bedeutet: Der halbe Tagessatz ist verbraucht, liegen zwei Liter Milch, ein Brot, eine Dose Leberpastete und ein Glas Marmelade im Einkaufsnetz.

Doch auch Finnland wird im EU-Vergleich trotz der aktuellen tiefen Krise auf der Seite der zahlenden Wohlhabenden stehen. Wie konkurrenzfähig die Exportindustrie ist, demonstriert sie bereits so kräftig, daß kürzlich aus Frankreich Dumpinganklagen kamen: die finnische Papierindustrie mache die einheimischen Fabriken kaputt. Neben der Holz- und Papierindustrie sind es vor allem der Maschinenbau, die Elektronik und die Werften, die durch Kompetenz udn Spezialisierung in einigen einträglichen Marktnischen weltweit konkurrenzfähiges Niveau erreicht haben. Schwer haben es dagegen traditionelle Industrien wie die Autoindustrie, die nur für ausländische Konzerne, so General Motors, produziert und gerade Tausende Arbeitsplätze gestrichen hat. Oder die Textilindustrie, die mit den Billigimporten aus dem Baltikum und Rußland nicht mithalten kann.

Die Wirtschaft hat sich nach dem faktischen Zusammenbruch des Osthandels auf die Westmärkte umgestellt, und rund die Hälfte des Handelsverkehrs wird derzeit bereits mit EU-Ländern abgewickelt, weitere 20 Prozent mit den übrigen Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes.

Ein spezielles Problem verspricht die finnische Landwirtschaft zu werden, falls die FinnInnen sich tatsächlich mehrheitlich für Brüssel entscheiden sollten – wonach es derzeit aussieht. Trotz eines ersten Verstädterungsschubs in den fünfziger Jahren arbeiten noch immer acht Prozent der FinnInnen in der Landwirtschaft. Auch wenn sie davon nicht mehr leben können: Mehr als die Hälfte des Einkommens der Landwirte kommt aus direkten oder indirekten staatlichen Subventionen. Und zum gesamten Bruttosozialprodukt trägt die Landwirtschaft auch nur noch gerade drei Prozent bei. Das Land leistet sich nicht nur die teure Landwirtschaft, um sich mit Getreide und Milchprodukten autark versorgen zu können. Um die Landwirte am Leben zu halten, werden in energiefressenden Gewächshäusern auch in diesen Breiten normalerweise nicht heimische Früchte und Gemüsesorten gezogen und gegen billige Auslandskonkurrenz geschützt. Auch wenn gerade noch 170.000 FinnInnen in diesem Wirtschaftszweig künstlich am Auskommen gehalten werden, kann sich keine Regierung leisten, die teure Landwirtschaft einfach auf dem Brüsseler EU-Altar zu opfern. Ob es allerdings jenseits der Jahrtausendwende in Finnland noch eine Landwirtschaft von einiger Bedeutung geben wird, dürfte für das zukünftige EU-Mitglied fraglich sein. Doch eine Alternative zu Europa scheint es nicht zu geben. Im Gegenteil: Brüssel wird geradezu als Rettungsanker für das treibende Schiff angesehen, das bisher im Ostgeschäft vor dem Weltmarkt fest verankert schien. Laviert sich Finnland durch die nächsten zwei, drei ökonomisch kritischen Jahre hindurch, könnte sich das einstige Grenzland im äußersten Nordosten Europas schnell auf eine einträgliche Zukunft im Schnittpunkt zwischen Ost und West einstellen. Allein im angrenzenden Gebiet von St. Petersburg leben mit sieben Millionen Menschen mehr – wie man hofft, zukünftig kaufkräftige Konsumenten –, als ganz Finnland EinwohnerInnen hat.