Atomunfall im russischen Sosnowi Bor

Reaktor lief 12 Stunden mit Loch im Notkühlsystem / Das Reaktorpersonal suchte nach dem Schaden / Radioaktive Wolke bei Wind aus Südwest  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) – Im Atomkraftwerk Sosnowi Bor, 50 Kilometer südlich von St. Petersburg, ist es am späten Montagabend zu einem schweren Atomunfall gekommen. Nach einem offiziellen Bericht, der der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien vorliegt, ist eine größere Menge radioaktiver Flüssigkeit aus dem Notkühlsystem des Blocks 1 im AKW Sosnowi Bor ausgetreten. Der Reaktor vom Typ Tschernobyl wurde aber erst am Dienstag um 12.22 Uhr per Hand abgeschaltet.

„Die russischen Behörden haben uns mitgeteilt, daß die zulässige radioaktive Belastung der Umgebung nicht überschritten worden ist“, sagte David Kyd von der IAEA gestern. Nach den Angaben seien nur geringe Mengen radioaktives Jod und Edelgase in die Umgebung gelangt. Reaktorexperte Hannu Koponen vom finischen Zentrum für Strahlung und Atomsicherheit (STUK) berichtete, nach Angaben der Reaktorleitung seien 0,1 Curie radioaktives Jod und 22 Curie radioaktive Edelgase ausgetreten. „Das ist weniger als die erlaubte Tagesdosis für das AKW“, so Koponen.

Greenpeace Moskau berichtete hingegen, unabhängige Experten hätten am Dienstag nachmittag um 14 Uhr Ortszeit ein Kilometer südlich der Anlage eine radioaktive Belastung von 185 Mikroröntgen pro Stunde gemessen. Die Belastung sei zwei Stunden später wieder auf 25 Mikroröntgen gesunken gewesen. Der Wind blies gestern aus Südwest Richtung St. Petersburg, er sollte aber im Laufe des Tages nach Südost drehen. Dann würde eine radioaktive Wolke Richtung Finnland wehen.

Lothar Hahn vom Darmstädter Öko-Institut erklärte, die gemessenen Strahlenwerte stellten eine „deutlich merkbare Erhöhung dar. Sie sind aber noch keine Katastrophe.“ Hahn verglich den Unfall nach der vorliegenden Beschreibung mit dem Biblis-Störfall im Herbst 1987, der zu millionenteuren Nachrüstungsmaßnahmen an deutschen AKW geführt hatte. Die russischen Behörden hätten noch keine Einstufung des Störfalls vorgenommen, erklärte Kyd.

Nach dem der IAEA vorliegenden Bericht ist an einer Schweißnaht des Notkühlsystems ein Loch aufgetreten. Radioaktive Flüssigkeit aus dem primären Kühlkreislauf, der direkt mit den atomaren Brennstäben in Berührung steht, sei offenbar wegen defekter Ventile auch ausgetreten.

Der Block 1 von Sosnowi Bor habe vor der Abschaltung nur mit 50 Prozent seiner Leistung gearbeitet, ergänzte der Finne Koponen. Das Reaktorpersonal habe in der Nacht von Montag auf Dienstag registriert, daß es irgendwo ein Loch geben müsse und zunächst danach gesucht. Erst dann sei der Reaktor per Hand heruntergefahren worden. Nach russischen Angaben sei der RBMK-1000-Reaktor aber jetzt wieder stabil. Die Kühlung funktioniere normal.

Alexander Kostin, Vizechef des Kraftwerks, sagte, das Abkühlen des Reaktors dauere etwa 72 Stunden. Erst danach könne eine Reparatur vorgenommen werden. Für das Anfahren würden weitere 72 Stunden benötigt. Für die Reparatur setze er insgesamt mindestens vier Tage an. Auch Hannu Koponen schloß ein schnelles Wiederanfahren des Meilers aus: „Die wollten jetzt eigentlich erst mit dem Reparieren anfangen.“ Die finnische Regierungsstelle STUK gilt als bestens informiert über Sosnowi Bor. STUK arbeitet seit einiger Zeit mit den Betreibern zusammen, um die Sicherheit der Atomreaktoren zu erhöhen.

Die Lichter gehen deswegen in St. Petersburg nicht aus. Insgesamt werden nur neun Prozent des russischen Stroms in Atommeilern produziert und nur fünf Prozent in den gefährlichen RBMK-Reaktoren (Tschernobyl-Typ). Häufig, wie auch in diesem Fall, wird der in den AKW hergestellte Strom exportiert und hilft so, die ständig leere Devisenkasse aufzufüllen. Nur 35 Prozent des Stroms aus Sosnowi Bor wird in St. Petersburg und Umgebung verbraucht. Der Rest geht vorwiegend nach Finnland, ein Teil auch in andere Teile Rußlands. Das Atomkraftwerk Sosnowi Bor geriet bereits mehrfach wegen schwerer Atomunfälle in die Schlagzeilen. Der erste gößere Unfall an einem AKW vom Tschernobyl-Typ hat sich an eben jenem Block 1 schon 1975 ereignet. Von 1982 bis 1993 gab es an den vier 1.000-Megawatt-Meilern zusammen 323 Störfälle, davon mindestens acht schwerwiegende.

Vor allem die Rohrleitungssysteme in Sosnowi Bor sind berüchtigt für ihre schlechte Qualität. Im März 1992 hatte ein Loch in einem Rohr des Primärkreislaufes eines der vier RBMK-Reaktoren zu einer lokalen Kernschmelze und zum bislang gefährlichsten Unfall in dem AKW geführt. Damals hätte es leicht zum nächsten Super- Gau kommen können. Die radioaktive Wolke war zuerst in Finnland gemessen worden, dann erst räumten russische Stellen den schweren Unfall ein. Die radioaktive Wolke wehte nach diesem Zwischenfall auch bis in die Millionenmetropole St. Petersburg.