Die Lokführer des ICE Rot-Grün machen Volldampf

■ Joschka Fischer und Jürgen Trittin als Niedersachsen-Wahlkämpfer in Göttingen

Göttingen (taz) – „Hannover- Leineschloß, Hannover-Leineschloß“ ruft oben auf der Bühne der Kabarettist von der „Gesellschaft für Ruhe und Ordnung“, der sich per Dienstmütze in einen Eisenbahner verwandelt hat. „Soeben eingetroffen der verbeulte ICE Rot-Grün. Ob er weiterfährt oder hier Endstation ist, wissen wir nicht.“ Unten vor der Bühne sitzen die beiden Wahlkämpfer, die wollen, daß es mit Rot-Grün weitergeht. Vor Joschka Fischer und Jürgen Trittin kleine Primeltöpfchen, hinter ihnen eine lange Reihe Blumenkästen mit Plastikpflanzen, die zum Inventar der mit 300 Leuten gut gefüllten „Festhalle“ im Göttinger Stadtteil Weende gehören. Gegenüber an der Empore hängt da noch das große Plakat der Wahlboykottinitiative, das gegen jede Stimmabgabe Front macht.

Auch hier in Trittins Wahlkreis ist der hessische Umweltminister der Star des Abends. Schlanker ist er ja nicht geworden in den letzten Jahren; und wie Fischer sich dann über das Rednerpult beugt und vor allem wie er sich der Zwischenrufer mit Freuden annimmt, erinnert er unwillkürlich an einen längst verstorbenen bajuwarischen Politiker. „In diesem Jahr fallen nicht nur die Würfel für die Politik der nächsten vier Jahre, es werden grundsätzlich die Weichen gestellt für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik“, lautet Fischers Grundthese. An einer Reihe von Beispielen umreißt er diese „hochpolitische Situation in einer entpolitisierten Gesellschaft“. Er spricht von der Umverteilung von unten nach oben, davon, daß die Gewerkschaften jetzt in die Knie gzwungen werden sollten. Den Sozialstaat will er nicht wegen der Gerechtigkeit verteidigen, sondern auch aus politischen Gründen. Denn in der Bundesrepublik würde anders als etwa in den angelsächsischen Ländern dessen Ende unmittelbar in den Nationalismus führen. Es drohe eine Militarisierung der Außenpolitik, eine republikanische Neuauflage des Wilhelminismus.

Nicht zuletzt werde eine „Ökopause“ den Weg aus Krise und Massenarbeitslosigkeit verbauen. „Dieses Land hat sich seit der Vereinigung in einem Außmaß verändert, wie es die stärksten Kritiker nicht geahnt haben“, ruft Fischer aus und sieht den Trend nach Rechts, der in der Gewaltwelle und in Morden an Kindern seinen Höhepunkt fand, längst nicht gestoppt.

Überwiegend junge Leute sitzen in der Festhalle, sicher in der Mehrheit Anhänger der Grünen, doch eher enttäuschte. Aber Fischer kann Wahlkampfsäle für sich gewinnen. Richtig Beifall heimst er ein, wenn er frontal auf den politischen Gegner losgeht. Etwa auf den Kanzler, der in Hamburg eine Rede gehalten habe, als sei er Oppositionsführer gegen elf Jahre rot-grünes Choas in Bonn. Oder auf Gehard Schröder, der sich mit seinem Einsatz für den Bau des Jägers 90 bei Endmund Stoiber in bester Gesellschaft befinde. „Die Mittel für diesen Jäger 90 hat die SPD in ihren Wahlprogrammen bereits zwölfmal für soziale Reformen ausgegeben“, spottet Fischer.

Schließlich sind da im Saal selbst noch die Wahlboykotteure. Ihnen begegnet der hessische Umweltminister zum Amüsement des Publikums in der Attitüde des älteren Erfahrenen, der selbst zehn Jahre lang den Wahlboykott propagiert hat und „in diesen zehn Jahren furchtbar viel geändert hat“. Als schließlich die Zeit für eine ausgiebige Diskussion mit den jugen Linken auf der Empore nicht mehr ausreicht, will „er ihnen eine Fahrkarte nach Frankfurt spendieren“, sich im Zuge einer ausgiebigen Diskussion stellen. „Macht die Grünen möglichst stark! Mischt euch ein zugunsten der Demokratie! Laßt nicht zu, daß sich Nationalismus und soziale Kälte breitmachen!“ lautet Fischers vom Saale bejubeltes Fazit.

Der niedersächsische Bundesratsminister Jürgen Trittin hatte sich später allein mit den durchweg kritischen Fragen des Publikums auseinanderzusetzen. Trittin zeichnet ein differenziertes Bild der rot-grünen Landespolitik. Als 5,5-Prozent-Partei hätten die Grünen in der Koalition vieles durchgesetzt, aber eben auch Niederlagen eingesteckt und Kompromisse geschlossen. Der Kritik von links vor allem an der Ausländerpolitik antwortet Trittin, er habe eben vieles einfach machen müssen. Aber die Grünen hätten eben auch 30.000 Flüchtlingen ein dauerhaftes Bleiberecht verschafft, darunter 9.000 Kurden aus der Türkei. Schon allein dieser Menschen wegen habe sich die Koalition allemal gelohnt. Die Diskussion über Einzelprobleme, wie etwa die Pipeline durchs Wattenmeer, die Genehmigung der Teststrecke für Daimler- Benz, ist Trittin inzwischen leid. „Wir versuchen zur Zeit nur der konservativen Gegenrevolution, dem Rechtsrutsch etwas entgegenzusetzen“, sagt der Bundesratsminister zum Abschluß. Mit den Grünen gegen den Rechtstrend. Bei den Kritikern von Links in Göttingen paßte diese Argumentation, und gelungene Wahlveranstaltungen haben die Grünen im Moment bitter nötig. Denn bisher kämpfen die Spitzenpolitiker der niedersächsischen Grünen immer noch um die Motivation der eigenen Mitglieder. Jürgen Voges