■ Jelzin bricht das Schweigen der Macht
: Nach mehrwöchiger politischer Abstinenz wird Rußlands Präsident Jelzin heute vor den Abgeordneten des neuen Parlaments seine als "programmatisch" angekündigte Grundsatzrede zur Lage der Nation halten

Jelzin bricht das Schweigen der Macht

Boris Jelzin hat sich auffallend viel Zeit gegönnt, bevor er heute vor der neugewählten „Staatsduma“ seine Regierungserklärung abgeben wird. Berater begründeten seine Zurückhaltung mit Erkältung und solider Vorbereitung eines tragfähigen neuen Konzeptes. Ein kompromißfähiger Weg soll gefunden worden sein, meinte Jelzins Wirtschaftsberater Saratow. Es wäre verwunderlich, wenn ausgerechnet das Regierungsprogramm die Kraft besitzen sollte, die überdeutlichen Brüche in der russischen Innenpolitik zu kitten. Nach den enttäuschenden Wahlen im Dezember stürzte Rußland und mit ihm der Präsident in politische Orientierungslosigkeit. Mit Hyperaktivität versuchte Premierminister Viktor Tschernomyrdin von seiner Sprachlosigkeit abzulenken.

Das Schweigen der Macht nutzte der Ultrarechte Wladimir Schirinowski, um seinen Überraschungssieg richtig auszukosten. Das Erstaunliche ist: Er braucht eigentlich gar nichts zu unternehmen. Rußlands politische Interimselite paßte sich den Gegebenheiten an. Außenpolitisch bemüht sie sich, den Chauvinisten den Rang abzulaufen, innenpolitisch scheint sie sich damit abzufinden, den unprofessionellen Lobbyisten aus der alten Nomenklatura, die am Kabinettstisch Platz genommen haben, klein beizugeben.

Das neukonstituierte Parlament kümmerte sich im ersten Monat seiner Tätigkeit weniger um gemeinnützige Belange. Man bewilligte sich opulente Gehälter, eine Moskauer Wohnung und einen Dienstwagen. Ein wesentliches Etappenziel wurde somit erreicht. Woran keiner ernsthaft zweifeln konnte, bestätigte sich auch. Die Chauvinisten der Liberaldemokratischen Partei (LDPD) verstehen sich bestens mit den Fraktionären der Kommunistischen Partei. Berührungsängste existieren nicht. Gemeinsam stimmten sie gestern für eine Generalamnestie. Die Putschisten vom August 91 und die Inhaftierten des Aufstands vom letzten Oktober könnten bald in die Freiheit entlassen werden. Noch sind die Einzelheiten und verfassungsrechtlichen Probleme nicht endgültig geklärt. Doch der Umstand allein spricht für sich. Jelzin war nicht grundsätzlich gegen eine Amnestie. Sie sollte unter anderem auch ein „Versöhnungszeichen“ sein, ohne allerdings die Rädelsführer des Putsches auf freien Fuß zu setzen. Vom neuen Parlament hatte man gehofft, es würde arbeitsfähiger sein als das alte. Bisher befaßt es sich mit rein ideologischen Fragen – dafür bedarf es keiner Kenntnis und Vorbereitung.

Die Reformkräfte unternahmen mehrfach den Versuch, Entscheidungen der Duma zu verhindern. Sie blieben den Abstimmungen fern, um das notwendige Quorum zu unterlaufen. Die Parlamentarier änderten einfach das Reglement. So war es schon im letzten Parlament – allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Heute bleibt der Lärm aus, eine gespenstische Stille liegt über allem.

Die Bemühungen des ehemaligen Vizepremiers Jegor Gaidar, landesweit eine schlagkräftige antifaschistische Front ins Leben zu rufen, scheiterten. Er konnte die Reformkräfte nicht einmal auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. Der erneute Anlauf, aus dem Wahlbündnis „Wahl Rußlands“ jetzt eine richtige Partei zu formieren, ist bisher auch nicht von Erfolg gekrönt. Im Gegenteil, selbst in der Duma sitzen die Abgeordneten der „Wahl Rußlands“ schon in verschiedenen Fraktionen. Als am Wochenende Gaidar die Vertreter der Bewegung „Demokratisches Rußland“ in Moskau aufforderte, sein Parteivorhaben zu stärken, begegnete man ihm mit größter Zurückhaltung.

Zwar hieß es aus dem Umkreis Jelzins, der Präsident betrachte sich als „strategischer Partner“ der Gaidar-Partei. Doch hier kommt es zu Konfusionen. Gaidar hatte dem Präsidenten Gefolgschaft versprochen nur so lange, wie er zu den Reformen stehe. Vielleicht erfährt man dazu heute mehr. Eigentlich ist Gaidar schon mit einem Fuß in der Opposition. Denn die Subventionspolitik Tschernomyrdins widerspricht seinem Kurs.

In den Balztanz Gaidars vor der „Bewegung“ platzte eine überraschende Meldung aus dem Kreml. Sergej Filatow, Leiter der präsidialen Administration, bot den Vertretern von „Demokratisches Rußland“ an, den Grundstock der mehrfach angekündigten „Präsidentenpartei“ zu bilden. Die Umwandlung der Bewegung in eine Partei, wie es Filatow vorgeschlagen hatte, scheiterte am Willen der Mehrheit.

Bisher ist unklar, wer die Präsidentenpartei mit Leben erfüllen soll. Den Zeitpunkt, sich eine in der Gesellschaft verankerte Hausmacht zu sichern, hat Jelzin offenen Auges verstreichen lassen. Heute wären die geeignetsten Prätendenten auf eine Mitgliedschaft die Funktionsträger aus dem Präsidentenapparat. Sie bräuchten kein Programm, da das Ziel nur im Machterhalt bestünde. Wahrscheinlich wird es nie zu einer Parteigründung kommen. Warum auch? Jelzin wollte ohnehin 1996 nicht noch einmal antreten.

Die Entfernung der Reformkräfte auf Landesebene hat sich nach den Wahlen noch vergrößert. Man will nicht an einen Tisch. Der Grund dafür liegt nicht in ideologischen Differenzen, sondern im Vorwahlkampf um die Präsidentschaft. Erstaunlich ist, daß fast alle Kräfte, von der Partei des Nationalitätenministers Sergej Schachrai (PRES) über den Jawlinskij- Block, die Agrarier bis hin zu den Kommunisten, sich auf eine gesellschaftliche Gruppe hin versteifen: die zukünftigen Wähler einer Sozialdemokratie. Statt die Attacke von rechts geschlossen abzuwehren, orientiert man sich auf eine Zukunft, deren Fundamente noch nicht allzu tragfähig sind.

Glücklicherweise findet das nationalistische und chauvinistische Lager auch zu keinem Konsens. Mit Ausnahme einiger Abstimmungserfolge. Der Streit um die Hegemonie ist erst im Entstehen, während die Schirinowski-Partei allmählich auch Risse zeigt.

Den Aufstand einiger Parteimitglieder gegen den „Duce“ letzte Woche stellte Schirinowski zwar als einen bewußt inszenierten Akt dar, der offenlegen sollte, wer gegen ihn opponiert. Doch das sind Ausreden, schon jetzt regt sich Protest gegen Führungsstil und Auftreten des Ultrarechten. Seine Radikalität nehme der Partei die Chance, bei Wahlen ans Ruder zu kommen, klagen einfache Parteiarbeiter. Einer der im Vergleich zu Schirinowski gemäßigteren Rechten, der bekannte Jurist und Vorsitzende der Fraktion „Rußlands Weg“, Sergej Baburin, forderte seine Gesinnungsgenossen auf, die Stimmen, die Schirinowski geerntet hat, wieder zurückzuholen. „Wir müssen in der Provinz agitieren, um zu zeigen, daß es eine bessere Alternative zu Schirinowski gibt“, sagte er auf einem Kongreß der Rechtsausläufer, die daran arbeiten, die Russische Gesamtnationale Union wiederzubeleben.