Vorhof des Paradieses

Neu aufgelegt: Ein Roman über das Scheunenviertel  ■ Von Florian Bungart

Am Ende von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ kehrt Franz Biberkopf zurück in die Stadt, um nüchtern festzustellen: „Den gibt's noch immer“, den Alex. 1939, kurz vor Ausbruch des Krieges, drängte es den jüdischen Schriftsteller und Rechtsanwalt Martin Beradt, bevor er nach New York emigrierte, zu einem letzten Besuch eines in „anständiger“ Leute Augen übel beleumundeten Quartiers, Hinterhof des Weltstadtmythos: das Scheunenviertel. Aber das gab es bereits schon nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr als Mikrokosmos ostjüdischen Lebens, wie in Martin Beradt eindrücklich und ohne Verniedlichung beschrieben hat.

Posthume Veröffentlichung

Wo sich fromme und weniger fromme orthodoxe Juden aus Litauen, Polen oder Galizien niederließen, und was eigentlich nur auf halbem Weg ins gelobte Land Amerika lag, das wurde vielen zum Wahlgetto, einigen zur Heimat. Eine der wenigen Gassen dieses Berliner „Schtetls“ war die Grenadierstraße, die heutige Almstadtstraße. Hier, in den Betschulen des Scheunenviertels, lernte der 1881 geborene, in einem orthodoxen jüdischen Elternhaus aufgewachsene Martin Beradt, hebräisch. Später bot ihm das altertümliche Milieu der Kaftane und Schläfenlocken den „Nachklang einer frommen Jugend“. Die immerwährende Neugierde des nicht gerade volkstümlichen, assimilierten Juden, der, wo auch immer, aufschrieb, was er hörte an überlieferten chassidischen Spruchweisheiten, Mythen, Legenden und gewitzten Gleichnissen, galt dem kollektiven Gedächtnis einer untergehenden Welt.

Um 1933 hat Beradt, der zuvor unter anderem bei S. Fischer einige vielbeachtete Romane veröffentlicht hatte, seinen einzigartigen Beitrag zur Berlin-Literatur, den Roman „Beide Seiten einer Straße“ ungeachtet späterer Überarbeitungen abgeschlossen. Doch woran er mehr als zwanzig Jahre arbeitete, konnte erst posthum – 1966 – auf Betreiben seiner Frau Charlotte Beradt und Karl und Ellen Ottens unter dem damals marktgängigeren Titel „Straße der kleinen Ewigkeit“ erscheinen. Die jetzt vorliegende Neuausgabe hat zu dem ursprünglichen Titel zurückgefunden und enthält erstmals auch den Abdruck eines Nachtrags, den Beradt im New Yorker Exil unter dem Titel „Schatten“ verfaßt hat.

Darin beschreibt er, der lange im faschistischen Berlin ausharrte, das traurige Bild, das ihm die Gasse 1939 bot. Inzwischen lag sie da wie tot. „An einem Teil der Geschäfte standen christliche Namen, die meisten zeigten leere Fenster oder geschlossene Rolladen unter den vertrauten Inschriften.“ Nicht erst mit den Novemberpogromen hatte die „Austreibung“ eingesetzt, die die Ankömmlinge aus dem Osten in Beradts Chronik einer Gasse mitunter ahnungsvoll heraufkommen sahen. Einmal gar nahmen sie sie vorweg: Nach einer Polizeirazzia, wie sie eben alltäglich war in der Straße, von Beradt präzise beschrieben, wurden zwei Häuser von ihren zahlreichen Bewohnern überstürzt geräumt, ohne daß jemals eine Anordnung dazu vorgelegen hätte.

Gerüchte haben durchaus ihren Stellenwert unter Leuten, die, wie Beradt schreibt, „neben ihrem bescheidenen, irdischen Dasein noch ein zweites, hohes, übersinnliches Leben führten“. Diesmal zwar verlief alles glimpflich. Doch die plötzlichen, gar nicht so naiven Ahnungen aller, gepaart mit der „Süßigkeit der Ohnmacht“, wo „alles weitere ... nur noch an ihnen“ geschieht, geben den Stoff für tagelange Diskussionen ab, wie wohl alles gekommen sei: „,Wenn man etwas sagt, stimmt es schon nicht.‘ ,Oder wenn's stimmt, ist es doch noch anders ...' – ,Was nicht ist, kann werden‘, hieß es in einem anderen Kreis. ,Alles kann sein und nischt! Es kann morgen Krieg sein und alle Hauptstädte können sein in einer Nacht vernebelt.‘ – ,Aber vielleicht kommt es mit uns schon früher schlecht.‘ – ,Auch das ist möglich, aber auch gar nicht oder später.‘ – ,Nun, so oder anders, wer kann wissen?‘ – ,Die Welt wird doch vernünftiger.‘ – ,Wird sie?‘“

Anekdotisches Panorama

Beradt hat einen modernen Berlin-Roman geschrieben, in dem die Stadt selbst sich nur in einem kleinen, hermetischen Ausschnitt preisgibt. Jenseits der literarischen Metaphern des zeitgenössischen Berlin-Bildes hat Beradt dieses Kammerspiel ohne aufgetragenes Lokalkolorit zum Welttheater gewendet, in dessen „Herzmitte“ das kleine Bethaus steht.

Er entfaltet ein anekdotisches Panorama der verschiedenartigsten Gestalten: Da ist Joel, dessen Gasthof auch noch den größten Ansturm Durchreisender nach Amsterdam, New York oder Tel Aviv verkraftet – man rückte ja immer zusammen in diesem Viertel. Da sind die beiden Schwestern, die in abbruchreifen Tordurchfahrten Wäsche feilbieten, oder Seraphim, der beredte junge Orthodoxe, die Bettler, die wohlhabenden Weichselbaums, die kommen und wieder gehen. Überhaupt dieses Panorama, das keinen Helden kennt als die Gasse selbst, kompositorisch aufgefaltet zwischen der Ankunft des jungen, feinsinnigen, aber gescheiten Frajim Feingold aus Piaseczno und seiner schmachvollen Rückkehr in die Heimat, wo nach Meinung aller die Aussichten am bedrückendsten waren.

Beradt, der schon wieder Vergessene, starb fast erblindet 1949 in New York. Vielleicht werden wir bald auch seine unveröffentlichten Novellen zu lesen bekommen, die vom Schicksal deutsch-jüdischer Emigranten handeln. Eines sollte nicht unerwähnt bleiben: Eike Geisels forsches Nachwort zu diesem Buch, „Nachruf zu Lebzeiten“, geht auf die aktuellen Vereinnahmungen der Geschichte des Scheunenviertels ein. Das ist anregend und hinterläßt doch, wie jede Polemik, einen schalen Beigeschmack. Eine differenzierte Betrachtung beispielsweise der Rezeptions- und Veröffentlichungsgeschichte wäre durchaus wünschenswert gewesen.

Martin Beradt: „Beide Seiten einer Straße. Roman aus dem Scheunenviertel“. Mackensen Verlag, Berlin 1993, 294 Seiten, 29,80 DM