Null Arbeit ab 0.00 Uhr morgens

■ 14.000 Metallbeschäftigte aus über 60 Berliner Betrieben demonstrierten gestern vor dem Gebäude des Arbeitgeberverbandes / Schneebälle auf die Unternehmerzentrale

Am Donnerstag vormittag hatte der Berliner Arbeitgeberverband sein Gebäude vorsorglich für den Publikumsverkehr geschlossen. Vor dem Haus am Schiller Theater standen Absperrgitter und Polizei, in den Fenstern der Metallarbeitgeber im vierten Stock hingen Plakate mit der Aufschrift: „Wer streikt, streikt gegen sich selbst.“ Das wollten die über 14.000 MetallerInnen aus mehr als 60 Betrieben, die dem Aufruf der Berliner Industriegewerkschaft Metall zum bundesweiten Warnstreik gefolgt waren, nicht glauben.

Die Beschäftigten sind sauer angesichts der Unternehmerforderungen im Tarifstreit 1994: Nullrunde beim Lohn, Streichung von Urlaubstagen und Urlaubsgeld, Arbeitszeitverlängerung. „Die Arbeitgeber haben den Bogen überspannt“, meinte ein Gewerkschafter vom Autozulieferer Pierburg, der aus dem „roten Wedding“ zum bislang größten Warnstreik des Jahres gekommen war. Als einzelne Schneebälle an der Unternehmerfassade zerplatzten, fragte sich jemand: „Warum nehmen wir keine Steine?“ Ein Transparent brachte die Stimmung drastisch auf den Punkt: Ein Arbeiter plaziert seine Faust treffsicher im Gesicht des Bosses mit Schlips und Melone.

Der Warnstreik hatte früh begonnen. Um 0.00 Uhr verließen 200 Beschäftigte des Gillette-Rasiermesserwerkes in Tempelhof die Nachtschicht. Motto: „Null Arbeit um 0.00 Uhr.“ Morgens machte sich mit 1.000 Leuten nahezu die gesamte anwesende Belegschaft vom Turbinenhersteller Siemens/KWU aus Moabit auf den Weg zum Arbeitgeberverband, der Zug von AEG schloß sich ihnen an.

Der 48jährige Facharbeiter Hans-Jürgen Zuske – seit 32 Jahren arbeitet er bei Siemens – wußte genau, warum er demonstrierte: gegen den „Sozialabbau“. Wenn die Arbeitgeber mit ihrer Nullrundenforderung durchkämen, würde sein Realeinkommen um ein paar hundert Mark sinken. „Seit Januar habe ich sowieso schon 400 Mark weniger. Die Berlinzulage ist gekürzt, die betriebseigene Erfolgsbeteiligung fällt weg.“ Der Verlust belaufe sich jetzt schon auf zehn Prozent pro Monat.

Außerdem will Zuske nicht zum „modernen Arbeitssklaven“ werden. Er befürchtet, daß die Unternehmer die Arbeitszeit über 40 Stunden pro Woche hinaus verlängern und kurzfristig Samstagsschichten anordnen wollen. „Dann kann ich mein Familienleben auf den Müll werfen.“ Die Flexibilisierung der wöchentlichen Arbeitszeit zwischen 30 und 40 Stunden, wie die IG Metall vorschlägt, würde er aber akzeptieren.

An der Stimmung der warnstreikenden MetallerInnen gemessen, scheint die Gewerkschaft mit ihren Forderungen einigermaßen richtig zu liegen. Viele Beschäftigte bei Siemens sagen, daß sie sich auf einen längeren Streik einlassen würden. Das wäre der erste heiße Arbeitskampf in der Berliner Metallindustrie seit 1945.

In seiner Kundgebungsrede vor der Unternehmerzentrale am Schiller Theater bekräftigte der Berliner IG-Metall-Bezirksleiter Horst Wagner die Position der Gewerkschaft: Sechs Prozent mehr Lohn, die auf Arbeitszeitverkürzungen angerechnet werden könnten, darüber hinaus kein Abbau von bestehenden Arbeitsplätzen. Der Unternehmerforderung nach flächendeckender Verlängerung der Arbeitszeit ohne Freizeitausgleich werde die IG Metall nicht zustimmen, weil dadurch Kündigungen vorbereitet würden und die Arbeitslosigkeit steige.

Wagner forderte die Berliner Metallarbeitgeber nochmals auf, die abgebrochenen Verhandlungen über den Tarifvertrag 1994 wieder aufzunehmen. Dann kam der Gewerkschaftschef zur heikelsten Frage des Tages: Wird die IG Metall den Streik und damit auch die Aussperrung der ArbeiterInnen aus den Betrieben durch die Unternehmer riskieren? Wagner: „Wir wollen keinen Arbeitskampf, sind aber zur Gegenwehr bereit.“

Der Metallgewerkschaft ist bei ihrer Streikdrohung nicht wohl zumute. Sie befürchtet, daß die Unternehmer flächendeckend, auch in nicht direkt bestreikten Betrieben, aussperren. Die IG Metall wäre dann im Zugzwang, auch diese Beschäftigten finanziell zu unterstützen. Das würde die Streikkasse der Gewerkschaft arg in Mitleidenschaft ziehen. Hannes Koch