■ Gastkommentar
: Flagellanten-Ästhetik

Dieser Wettbewerb hatte seinen Glückstreffer – ein dem Ort angemessenes Konzept. Nur hat es nicht gewonnen. Der Entwurf des 2. Preisträgers bot eine zur Landschaft geformte Architektur und eine versöhnliche Vision künftigen Lebens draußen an der Peripherie. Freifließende naturnahe organhafte Räume suchen den Ausgleich zur beherrschenden städtebaulichen Ordnungsstruktur und dem strengen architektonischen Raster. Die Amorphität, die am Alexanderplatz sträflich gewesen wäre, hat in Marzahn durchaus einen Sinn. Die „grüne Wiese“ ist hier auf verantwortliche und poetische Weise zum eigentlichen städtebaulichen Thema gemacht: gerade Licht, Luft und Sonne bilden einen sehr wesentlichen Anreiz für die positive Identifikation der Bewohner. Leichte Basarbänder für Kleingewerbe und fliegende Händler begleiten die bisher unterentwickelte Promenade, auf die sich schon jetzt die „Schaufensterbummler“ konzentrieren. Ihnen wird unter Zeltdächern ein luftiges Passagensystem angeboten, in dem es sich sogar flanieren ließe. Das Projekt bedient die größten Defizite des Stadtbezirks auf denkbar sinnvolle Weise, indem es reichlich Verkaufsflächen für die Investoren wie die unterversorgten Konsumenten mit Parkanlagen und Natur verbindet. Natur bedeutet hier weiche, sanfte, grüne Umarmung der strengen, meist elfgeschossigen Blöcke.

Die Jury entschied anders. Höher bewertet wurden Zucht und Ordnung und Aufteilbarkeit unter die Investoren. Der Triumph des ersten Preises gehört dem Städtebau der Fluchtlinien, Blöcke, Symmetrien und harten Kanten. Die Architektur ist von „wittgensteinscher“ Strenge und die Oberflächen schreien geradezu nach geschliffenem Naturstein. Selbst die Bäume stehen stramm wie die Gräber der Herrenhuter Brüdergemeine. Gesiegt hat die Stadt als Friedhof und die Ästhetik der Flagellanten. Simone Hain

Die Autorin ist Mitarbeiterin des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung. Sie wohnte von 1982 bis 1992 in Marzahn.