Geheimwaffe „CaSSiB – Frühwarnsystem Nord“

■ Computer steuern die Streikstrategie der Industriegwerkschaft Metall im Norden

“Killerparagraph 116 AFG“, „kalte Aussperrung“, „Fernwirkung der Zulieferverflechtung“, „heiße Aussperrung“, „rollierendes Punktstreiksystem“ ... – wenn gewerkschaftsferne Normalos die Chance hätten, die aktuellen Geheimbesprechungen gewerkschaftlicher Streikstrategen zu belauschen, sie verständen vor allem eines: „Bahnhof!“

Keine Sorge: Auch vielen Traditionsmetallern geht es derzeit kaum anders. So ist beispielsweise die Mehrzahl der 14.000 Daimler-Kollegen in Bremen richtig heiß auf Streik. Seufzend meint Norddeutschlands IG-Metall-Chef Frank Teichmüller: „Da geh nun mal hin und erklär denen, daß sie nicht dürfen.“ Verkehrte Welt: Die guten alten Zeiten, als es trutzig hieß „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“ sind perdu. Heute gilt: Je weniger die Wirtschaft von einem Streik merkt, desto besser, meint die IG Metall.

Der Grund? „Killerparagraph 116“: Als in den 80er Jahren die IG Metall vormachte, wie eine Gewerkschaft heute angesichts der extremen Lieferverflechtungen der deutschen Industrie mit kleinen Schwerpunktstreiks großflächig die Industrie lahmlegen kann, klingelten bei Politik, Justiz und Management die Alarmglocken. Frank Teichmüller erläutert: „Wir brauchen heute bloß die Firma Kolbenschmidt zu stoppen – dann steht in wenigen Tagen fast die gesamte deutsche Autoindustrie still.“ Ohne Kolben kein Auto. Die alten Vorratslager wurden abgeschafft, angeliefert wird inzwischen oft schon direkt an die Bänder. Gerade die Metallbranche ist ein empfindliches Gesamtsystem mit hoher überbetrieblicher Arbeitsteilung. Eigentlich allerbeste Voraussetzung für erfolgreiche Streiks.

Denkste. Der Paragraph 116 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), die prompte Antwort der CDU/CSU/FDP-Regierung, hat die Waffe des Schwerpunktstreiks nicht nur radikal entschärft, sondern sie dem Gegner in die Hand gedrückt: Arbeitsämter zahlen für direkt oder indirekt vom Streik betroffene Arbeiter kein Geld mehr. Macht die IG Metall also Kolbenschmidt dicht, dann stehen kurze Zeit später alle Automobil-Metaller ohne Einkommen da, „ein politischer Spagat“, so Teichmüller, „den wir nicht lange durchhalten können“.

Gestreikt wird deshalb heute nicht mehr mit dem Arm, sondern per Computer. Entscheidendes Hilfsmittel: das Programm CaSSiB, Computer added Streik-System in Bayern, das bayerische Metaller selbst entwickelt haben. Penibel fragten sie Betrieb nach Betrieb auf Abhängigkeiten bezüglich Abnehmern und Zulieferern ab. Ein komplettes Bild der bayerischen Metallbranche entstand.

Die IG Metall-Bezirke Küste und Niedersachsen kopierten das Programm und füttern ihre Rechner seit Monaten mit mühsam erhobenen und gegengecheckten norddeutschen Daten, Betrieb für Betrieb. Einen ersten Erfolg erzielten die Nordlichter mit ihrer Fleißarbeit kürzlich bei der IGM-Zentrale in Frankfurt: Sie konnten den Streikstrategen nachweisen, daß der Norden die geringsten Verflechtungen aufweist, also die geringsten Gefahren bezüglich kalter Aussperrung mit sich bringt. Nordrhein-Westfalen, ebenfalls scharf auf Streik, zog den kürzeren.

Das Streikprogramm für März und April entstand jetzt ebenfalls mit CaSSiBs Hilfe. Per Knopfdruck werfen die IGM-PCs jene Betriebe aus, denen es ökonomisch gut geht, die über einen hohen Organisationsgrad verfügen und kaum „Fernwirkungen erzeugen“. Auch die Streiklänge läßt sich so zartfühlend dosieren. Teichmüller setzt voll auf seine neue Waffe: „Wer die kalte Aussperrung gewinnt, gewinnt diesen Arbeitskampf.“ Florian Marten