Vom Leben ohne Zuhause

■ Wohnungslos in Bremen oder: Was „Platte machen“ jeden Tag bedeutet, Tag für Tag Von Prof. Heide Gerstenberger

Prof. Heide Gerstenberger ist Hochschullehrerin am Fachbereich Ökonomie der Bremer Universität und befaßt sich insbesondere mit der Theorie des Staates. Seit dem November vergangenen Jahres macht sie regelmäßig „Dienst“ in der „Tasse“, einer Anlaufstelle für Wohnungslose in der Fleetstraße 67a in Walle. Der Verein „Hilfen für Alleinstehende Wohnungslose“ (Allwo), der rein privat finanziert ist, betreibt dort einen Laden, der dienstags, donnerstags und samstags von 14-18 Uhr für Wohnungslose offen steht, sonntags zwischen 9 und 13 Uhr sogar mit Frühstück. Die konkreten Beispiele des Textes von Heide Gerstenberger sind aus der Arbeit in dieser Anlaufstelle gewonnen.

Beginnen wir also mit dem Suff. Viele halten Alkoholismus für eine Eigenschaft, die der Mensch erwirbt, wenn er die Wohnung verliert. Und die Betrunkenen, auf die man an verschiedenen Stellen der Stadt regelmäßig trifft, scheinen diese Auffassung nachdrücklich zu bestätigen. Sie ist dennoch irrig. Zunächst einmal ist zu bedenken, daß der Alkoholismus von Wohnungslosen sehr viel mehr ins Auge fällt als der Alkoholismus von Menschen, die hinter Wohnungs- oder Bürotüren trinken und sich häufigere Kneipenbesuche leisten können. Besonders auffällig werden wohnungslose Säufer zudem, weil sie vielfach in Gruppen trinken. Auch unter Wohnungslosen gibt es Menschen, die alleine trinken, sehr viel häufiger aber ist der gemeinsame Suff. Zumeist finden sich Trinker an dafür bekannten Orten spontan zusammen, gelegentlich kommt es aber auch zu regelrechten Verabredungen. Dann kann schon einmal von einer „Party“ die Rede sein.

Erstaunlich ist weder die gemeinsame Suche nach fröhlicher Geselligkeit noch die einsame Flucht in den Alkohol, wirklich erstaunlich ist aber, daß es Menschen gibt, die ohne Wohnung leben und keine Säufer (mehr) sind. Da sie nicht lärmend in Erscheinung treten, weiß die Öffentlichkeit wenig von ihnen. Auch kann die Wissenschaft nicht mit Prozentzahlen aufwarten, denn Menschen ohne eigene Adresse fallen nicht nur aus den normalen Strukturen unserer Gesellschaft heraus, sie leben auch quer zu den Verfahrensweisen quantifizierender Sozialforschung. Was es bedeutet, den Entschluß der Abstinenz in trostlosen Unterkünften unter Alkoholikern tagtäglich zu leben, können wir Außenstehenden uns wohl kaum vorstellen. Fast alle, denen dies nach einer Phase des eigenen Alkoholismus schon seit längerer Zeit gelingt, berichten, daß sie nicht durch fremde therapeutische Hilfe, sondern aufgrund eines plötzlichen Erschreckens vom Suff losgekommen sind. „Weiße Mäuse habe ich nie gesehen, aber eines Tages einen Mann im Schaufenster, der mir mit dem Finger drohte und sagte 'Erwin, wenn Du jetzt nicht sofort aufhörst, gehst Du vor die Hunde'. Das war's dann.“ Auch unter Wohnungslosen gibt es im übrigen Menschen, die gemäßigt trinken: Bier, selten Schnaps, dafür aber manchmal „einen guten Wein“.

Wer die Gruppen-Platte in der Unterführung an der Bischofsnadel passiert, kommt leicht zu der Ansicht, Wohnungslose hätten alle Zeit dieser Welt. Tatsächlich gerät die Anforderung, die Tage totzuschlagen , für viele zu einer anstrengenden und – so paradox das klingt – zeitraubenden Tätigkeit. Wer etwa in dem Behelfsheim der Inneren Mission in der Duisburger Straße übernachtet hat, muß spätestens um 10 Uhr vormittags auf die Straße. Dann steht er „weit hinten“ in der Neustadt. Will er nicht schwarz fahren, weil er kein Bußgeldverfahren riskieren mag oder bereits eines am Hals hat, muß er tagsüber weite Strecken zu Fuß zurücklegen. Denn die Einrichtungen, in denen für wenig Geld ein Mittagessen zu erhalten ist oder in denen man sich ohne Konsumzwang und soziale Diskriminierung über längere Zeit aufhalten kann, liegen in ganz anderen Gegenden der Stadt und teilweise weit verstreut.

Wer einen der häufig erforderlichen Behördengänge zu absolvieren hat, muß ohnehin „Zeit mitbringen“. Will jemand tagsüber seine Wäsche waschen, so trägt er sie auf allen diesen Wegen mit sich herum, denn erst um sieben Uhr abends ist in der Unterkunft in der Duisburger Straße wieder Einlaß. Wer Platte macht und keine Möglichkeit hat, seine Habseligkeiten irgendwo anders geschützt zu verwahren, pilgert täglich zum Schließfach im Bahnhof. Dort wird er DM 2,- los und muß das Gebäude dann schnell wieder verlassen. Denn seit im Bahnhof private Ordnungskräfte (von Wohnungslosen als „schwarze Sheriffs“ bezeichnet) Dienst tun, ist es mit einem längeren Aufenthalt in der zumindest einigermaßen warmen Bahnhofshalle vorbei. Neuerdings wird rigoros kontrolliert und „entfernt“.

Nicht alle Wohnungslosen haben sich aufgegeben. Manch eine und manch einer versucht immer wieder, Wohnung und Arbeit zu finden oder sich aus alten Schulden herauszuwinden. Dafür sind viele Gänge erforderlich. Sie sind mühsam, zeitaufwendig und fast immer deprimierend. Anders als für unsereins verbietet sich dann die ruhige Tasse Kaffee unterwegs. Denn abgesehen davon, daß dafür das Geld kaum reicht, werden Menschen, die länger wohnungslos sind, auch unsicher in der Öffentlichkeit. Als Rainer erzählte, daß er sich manchmal – „nicht grade während der Stoßzeiten“ – am Selbsbedienungstresen im Kaffee von Horten etwas aussucht, was er sonst nicht bekommt, reagierten seine Zuhörer mit großem Erstaunen. Derartige Lokale definieren in der Regel auch diejenigen für sich als „off limits“, denen kaum jemand die Wohnungslosigkeit ansieht. Sie selbst wagen sich höchstens noch in ein Stehkaffee. Für die vielen, die kaputte Glieder und offene Beine haben, bleibt der Erholungswert dieser Pausen begrenzt.

Das Leben auf der Straße ist teuer. Im Prinzip steht in Bremen derzeit jedem, der sonst keine Einkünfte hat, ein Betrag von DM 17,18 pro Tag zur Verfügung. Dazu kommen (offiziell, aber nicht immer auch faktisch) DM7,- pro Woche fürs Waschen. Wer von Sozialhilfe lebt, muß in den Behelfsheimen der Inneren Mission keinen Eigenanteil fürs Übernachten bezahlen (alle übrigen DM 5,- pro Nacht). Das Sozialhilfegesetz bzw. die kommunalen Verordnungen haben also ein unterstes Auffangtuch gespannt, das jeden und jede vor dem tiefsten Elend bewahren soll. Dieser Sachverhalt ist in der Bevölkerung heutzutage zwar nicht in den konkreten Einzelheiten, wohl aber im Prinzip gut bekannt, weshalb denn auch bei „Sitzungen“ (Stunden, die mit Betteln zugebracht werden) inzwischen weit weniger zusammenkommt als in früheren Jahren.

Tatsächlich haben aber nicht alle Wohnungslosen alle Tage genug Geld zum Essen. Manchmal ist das Geld einfach zu schnell alle. Es gibt aber immer wieder auch Menschen, die ihre gesetzlichen Ansprüche nicht kennen. Andere sind nicht (mehr) bereit, sich der Situation auf der Behörde auszusetzen, wiederum anderen ist ihr Tagessatz gekürzt worden, weil sie eine der Mitwirkungspflichten (z.B. polizeiliche Abmeldung im letzten Wohnort) nicht erfüllt haben. Es kommt auch vor, daß Menschen kein Einkommen haben und dennoch von einem Sachberater wieder weggeschickt werden. Gelegentlich entwickeln sich auch ganz unglückliche Situationen. Wird – um ein Beispiel zu nennen – der Sozialbehörde gemeldet, daß der Scheck für die Arbeitshilfe abgegangen ist, so gibt es beim Sozialamt keinen Vorschuß mehr auf diese Zahlung. Erreicht nun aber der Scheck – wegen irgendwelcher unglücklicher Umstände bei der Zustellung an die dafür angegebene Adresse – den Adressaten nicht, so läßt sich dieser Sachverhalt während der Gültigkeit des Schecks (ein Monat) nicht beweisen. Das ist dann eine der Situationen, in denen sich ein wohnungsloser Mensch schon einmal dazu verleiten läßt, auf einer Behörde laut und aggressiv zu werden. Unter bestimmten Lebensbedingungen ist es wirklich kaum einsehbar, daß sich Sozialverwaltung an formalen Regeln orientiert und nicht an existentiellen Bedürfnissen.

Anders als vielfach unterstellt, leben beileibe nicht alle Wohnungslosen von der Stütze. Nicht wenige – auch von jenen, die wir auf der Straße übernachten sehen – beziehen nach Jahrzehnten der Berufstätigkeit eine Rente. Andere erhalten Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe. Die heutige Situation auf dem Wohnungsmarkt macht es für jeden, der erst einmal die Wohnung verloren hat, schwer, mit geringem Einkommen erneut eine eigene Bleibe zu finden. Nach einer Phase der Wohnungslosigkeit ist dieses Glück – gelegentlich tritt es tatsächlich ein – so selten wie sechs Richtige im Lotto. Unter diesen Bedingungen ist es schon die bessere Lösung, wenn jemand durch das Sozialamt an ein Bett in einem der sogenannten Billighotels gelangt. Billig sind diese Hotels allerdings nicht. Für ein winziges Zimmer, „im Keller, ohne Heizung, ohne Tageslicht, ein Bett, eine Steckdose, ein Stuhl“ zahlt einer bis zu DM 650,- monatlich, DM 750,- gar pro Bett in einem Doppelzimmer, wenn es sich um eines der besseren Häuser handelt. Frühstück ist bei diesen Preisen selbstverständlich nicht inbegriffen und auch bei DM 750,- Monatsmiete für einen Bettplatz ist beileibe nicht garantiert, daß ein kaputter Staubsauger kurzfristig repariert oder ersetzt wird, die Bleibe also einigermaßen reinlich gehalten werden kann. Da kein Anspruch besteht, sich den Zimmergenossen selbst auszusuchen, „wohnen“ häufig Nicht-Trinker mit schweren Alkoholikern zusammen. Insgesamt kommt es oft zu Streit und zu Auseinandersetzungen um den ohnehin kargen Privatbesitz.

Es gibt keinen bestimmten Typus „Wohnungsloser“. Vor einigen Jahren meinten Wissenschaftler nachgewiesen zu haben, es handle sich dabei um Menschen, denen die Fähigkeit abgehe, die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben. Zu diesem Ergebnis waren sie aufgrund eines streng wissenschaftlichen Experiments gelangt: Wohnungslosen wurde angeboten, entweder einen kleinen Geldbetrag sofort oder einen etwas größeren eine Woche später zu erhalten. Fast alle wählten die erste Alternative. Bewiesen ist damit freilich nur, daß es Wissenschaftler gibt, denen die Fähigkeit abgeht, sich Lebensbedingungen vorzustellen, unter denen diese Wahl die vernünftigere ist. Solche Vernunft erlernt sich, ebenso im übrigen wie das Mißtrauen gegenüber fast allen anderen. Trotz solcher Anpassung bleiben die Unterschiede zwischen den einzelnen ebenso groß wie unter Menschen, die in anderen Umständen leben. Wie soll auch einer, der keine abgeschlossene Schulbildung hat, Gelegenheitsjobs fand und zwischendurch wegen kleinerer Delikte mehrfach im Knast war, einem gleichen, der jahrzehntelang als selbständiger Handwerker arbeitete und mit Frau und Kindern im eigenen Haus lebte, wie einem Seemann, der nach langer Fahrenszeit keine Heuer mehr fand, wie dem jungen Facharbeiter, der aus den neuen Bundesländern kam, um hier sein Glück zu suchen? Manche haben den Schock, auf der Straße gelandet zu sein, auch nach vielen Monaten noch nicht verwunden. Unerträglich ist vor allem jenen, die lange berufstätig waren, daß ihnen nun pädagogisch bevormundend oder gar mit Angeboten zur Unterbringung in einer therapeutischen Einrichtung begegnet wird. Manch einer, der sich dem oberflächlichen Blick als jemand darbietet der sich vollständig aufgegeben hat, zieht das Leben „auf Platte“, die Übernachtung auf der Straße, in einem Hausflur, in einer Garage, einem Rohbau oder auf einer Parzelle den Übernachtungsheimen vor, um sich einen letzten Rest von Unabhängigkeit zu bewahren.

Vereinzelt gibt es in Bremen auch wohznungslose Frauen. Leben sie ohne festen Partner, so sind sie der rüden Anmache ausgesetzt, die in den Übernachtungsheimen und auf der Straße herrscht. Erfahren Mann und Frau das Glück einer längeren festen Bindung, so bleibt ihnen nur die Suche nach irgendeiner Form des behelfsmäßigen Unterschlupfs. Denn in Bremen (und anderswo) wird den Ärmsten zwar für die Nacht ein Dach über dem Kopf offeriert, das Recht auf eine Privatsphäre, in der sich gemeinsame Sexualität leben ließe, wird ihnen aber verweigert. Diese Strategie setzt sich fort, wenn derzeit rigoros gegen diejenigen vorgegangen wird, die regelmäßig auf einer Parzelle nächtigen und keine andere Adresse nachweisen können.

Wer heutzutage in Bremen für längere Zeit ohne Wohnung lebt, für den ist es ein Fluch, wenn er das große Einmaleins beherrscht. Auch diejenigen, die für die Übernachtung in einem der Behelfsheime keine Kostenbeteiligung entrichten müssen, wissen daß die Sozialbehörde für jedes belegte Bett pro Tag DM 73,50 an die Innere Mission überweist. Unter Wohnungslosen ist auch bekannt, daß die Miete für das Gebäude in der Duisburger Straße, das angemietet wurde, weil das Behelfsheim in der Duckwitzstraße nicht mehr ausreichte, DM 20 000 kostet, ein Betrag, der zusätzlich zu den „Pflegesätzen“ jeden Monat für die Sozialbehörde anfällt. Was, bitteschön, soll einer von der Welt halten, der diese Summen kennt und ständig zu hören und zu lesen bekommt, er sei eine finanzielle Belastung, die sich diese Gesellschaft nicht (mehr) leisten könne? Und wie, bitteschön, soll einer wieder ins normale Leben zurückfinden, der eine vorübergehende Beschäftigung gefunden hat und von seinem zumeist nur kargen Verdienst weiterhin DM 750,- pro Monat für das Bett in einem Hotelzimmer bezahlen muß, in dem er kaum Schlaf findet, weil um ihn herum gesoffen und gestritten wird.

„Die kennen heute alle diese Ausdrücke über uns, Berber, Platte, Penner und so weiter, aber wirkliche Gedanken macht sich keiner.“

Die wörtlichen Zitate stammen von Menschen, die ohne Wohnung in Bremen leben. Ihre Vornamen wurden geändert. Auch die angedeuteten Biographien sind nicht erfunden.