Fehldiagnose für einen Überlebenden

■ Das Versorgungsamt streicht schwerkrankem, ehemaligem KZ-Häftling das Pflegegeld / Krankenkasse bestätigt dagegen Schwerpflegebedürfdigkeit / Seine Lebensgefährtin will für ihn "kämpfen bis zum letzten"

Im Konzentrationslager Mauthausen erhielt Häftling Georg K.* außer einen gestreiften Sträflingsanzug ein Paar Damenschuhe aus echtem Kroko, Größe 36. Viel zu klein für den jungen Mann, der Schuhgröße 42 trug. Aber er hatte ja keine Wahl. „Die Pflastersteine zwischen den Baracken waren sehr uneben. Ohne Schuhe konnte man überhaupt nicht laufen“, sagt der heute 70jährige.

Auf Kroko-Pumps durchs KZ – dieses groteske Detail könnte einem Film von Lina Wertmüller entstammen. Doch für Georg K. war es ebenso wirklich wie der Todesmarsch nach Mauthausen; den hatte er gerade überlebt wie auch die Bedrohung durch die SS- Wachmannschaften im Lager. „Aus Zeitvertreib haben sie uns zwischen den Baracken im Laufschritt hin und her gejagt. Und wer sich nicht schnell genug hinlegte, wurde erschossen.“

Nach der Befreiung durch die Amerikaner schlug sich Georg K. nach Kladno durch, seine bei Prag gelegene Heimatstadt. 44 Kilo wog er damals. Sein Nachbar, ein Arzt, räumte ihm kaum eine Überlebenschance ein; der Magen war durch Flecktyphus stark angegriffen. Weil K. überlebte, meinte er: „Ich glaube langsam an Wunder.“

48 Jahre später gibt ein anderer Arzt in Berlin ein Gutachten über K.s Gesundheitszustand ab. Der Antragsteller sei nicht mehr pflegebedürftig, behauptet Michael- Christian Schulz. Das Berliner Versorgungsamt strich Georg K. daraufhin das Pflegegeld von 525 Mark. Georg K. sagt, der Arzt hätte ihn gar nicht aufgesucht – das würden er und seine Lebensgefährtin Rita M.* auch unter Eid bezeugen. „Ich bin nicht verblödet“, sagt der weißhaarige alte Mann.

Er spricht langsam und mit sichtlicher Mühe. Drei Jahre Zwangsarbeit unter den Nazis haben seine Gesundheit angegriffen. Im KZ ist er dem Tod mehrmals nur knapp entronnen. Überlebt hat er auch zwei Herzinfarkte 1968 und 1981. Geblieben sind Kreislauf- und Herzrhythmusstörungen, die Lunge arbeitet nur noch mit halber Kraft. „Und dann hat er noch ein paar Kleinigkeiten“, wie seine Lebensgefährtin Rita M. ironisch anmerkt. Zwischen Mai 1991 und April 1992 war er sechsmal für längere Zeit im Krankenhaus. Noch im April '93 hatte das Versorgungsamt eine Kur „aufgrund fehlender Herzleistungsreserve“ abgelehnt. Sollte der Patient, der im April noch zu krank für eine Kur war, im November plötzlich zu gesund für das Pflegegeld sein?

Schulz erklärte gegenüber der taz: „Ich habe bei meinem Besuch im November einen nicht der Pflegestufe entsprechenden, recht gesunden Mann angetroffen.“ Doch da sind einige Ungereimtheiten. Zum einen stimmen etliche Details nicht. „So einen niedrigen Puls hatte ich noch nie“, sagt K. Und anders, als im Gutachten vermerkt, sei er keineswegs in der Lage, sich selbständig an- und auszuziehen. Im Gutachten heißt es weiter, Frau M. sei „z.Zt. zur Kur“. Auch das stimme nicht, sagt sie. „Ich könnte ihn doch niemals vier Wochen alleine lassen.“ Sie war zwar zur Kur, aber schon vom 6. Juni bis zum 4. Juli vergangenen Jahres und zudem in Begleitung von Georg K.

Nicht nur die Hausärztin, sondern auch eine Ärztin des medizinischen Dienstes der Krankenkasse, Dr. Bodenburg, kam hinsichtlich der Pflegebedürftigkeit von Georg K. zu einem ganz anderen Ergebnis als Schulz. Sie hatte Georg K. am 25. November '93 untersucht, nur zwei Wochen nach Schulz. In ihrem Gutachten schreibt sie: „Der Versicherte ist schwer pflegebedürftig. Er benötigt für fast alle Verrichtungen des täglichen Lebens fremde Hilfe.“ Sie stufte K. in PflegestufeII ein. Zu diesem Ergebnis war im August '92 auch der vorherige Gutachter des ärztlichen Dienstes des Versorgungsamtes gekommen.

„Die haben eine bestimmte Gutachterpraxis“, sagt der Leiter der Berliner Entschädigungsbehörde dem ärztlichen Dienst des Versorgungsamtes und präzisiert auf Nachfrage: „Wir stellen fest, daß Anträge auf Pflegegeld sehr häufig abgelehnt werden.“

Seit der Ablehnungsbescheid im Januar eintraf, geht es Georg K. schlechter. „Die Aufregung über diese Ungerechtigkeit zehrt einfach an der Gesundheit und an den Nerven. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen.“ Er hat Widerspruch eingelegt.

Ohne seine Renitenz hätte Georg K. das, was er durchgemacht hat, kaum überlebt. Seine Familie wurde 1942 wegen ihrer jüdischen Herkunft nach Theresienstadt deportiert. K. mußte anderthalb Jahre auf einem Anwesen bei Prag Zwangsarbeit leisten, das der Witwe des ermordeten Reichsprotektors Reinhard Heydrich zugeteilt worden war. Seine Eltern und seine damals 17jährige Schwester wurden 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Er selbst kam mit dem letzten Transport von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau, nachdem er an Bauchtyphus erkrankt war. Nur mit Hilfe eines Freundes, der ihn von hinten stützte, entging er bei der Ankunft der Aussonderung für die Gaskammern. Um dem Vernichtungslager zu entkommen, meldete er sich nach Weihnachten 1944 freiwillig als Schlosser und kam in das Lager Monowitz, später nach Gleiwitz.

Als die Front an Silvester immer näher an das Lager heranrückte, mußten die Häftlinge gen Westen marschieren. Tag und Nacht, mit viel zu wenig Verpflegung. Den 15tägigen Marsch bis in das KZ Mauthausen überlebten von 850 Häftlingen knapp die Hälfte.

Eine Entschädigung hat Georg K. nie erhalten, denn zum fraglichen Stichtag 1969 lebte er noch in der Tchechoslowakei. Erst 1978 gelang es ihm, mit einem Touristenvisum das Land zu verlassen. Weil er als „politisch unzuverlässig“ galt – der ehemalige Sozialdemokrat weigerte sich, in die Kommunistische Partei einzutreten –, war er mehrmals strafversetzt worden. Ein weiterer Grund für die Flucht war, daß er dringend benötigte Medikamente in der ČSFR gar nicht oder nur sehr schwierig erhielt. „Da habe ich meinen Trabi vollgepackt. Und nach zwei Monaten habe ich einfach vergessen zurückzufahren“, sagt er. Verschmitzt.

In Deutschland hat sich der gelernte Gastronom und passionierte Rallyefahrer bis zu seiner Pensionierung als Privatfahrer, Pförtner und Totenwächter über Wasser gehalten. „Ich wollte nie zum Sozialamt“, sagt Georg K., Rita M. ergänzt: „Er hat sich immer bemüht, dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen, und das ist jetzt der Dank.“ Die energische, ältere Dame kündigt an: „Ich werde bis zum letzten für ihn kämpfen.“ Dorothee Winden

* Die Namen wurden geändert.