: Die Wahrheit sagen
Nach der Diktatur: das Erinnern ■ Von Adam Newey
Ein spanisches Sprichwort besagt: Wahrheit ist wie Öl, am Ende schwimmt sie oben. Selbst wenn das stimmt, bleibt die Frage, was man mit der Wahrheit macht, wenn sie oben ist.
Nicht nur in Deutschland, wo man über die Akten der Stasi diskutiert, oder in den ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas stellt man sich diese Frage. Weltweit haben sich Gesellschaften von Diktaturen der einen oder anderen Art befreit und dann erfahren, daß es nicht reicht, nur frei zu sein. Denn die Vergangenheit bleibt Bestandteil der Erinnerung all derer, die unterdrückt wurden, deren Angehörige gefoltert und ermordet wurden oder „verschwanden“. Ein Gleichgewicht muß gefunden werden zwischen der Versöhnung einerseits (die nötig ist, damit ein neuer Konsens in neuer Gleichberechtigung miteinander ausgehandelt werden kann) und der Notwendigkeit andererseits, das ganze Ausmaß und die Ursachen der vergangenen Schrecken zu begreifen.
Mit solchen Fragen beschäftigte sich eine Konferenz Ende letzten Jahres in London, die das „Catholic Institute for International Relations“ organisiert hatte. Unter dem Titel „Das Recht auf Wahrheit: Amnestie, Amnesie, Geheimhaltung“ waren Sprecher aus aller Welt eingeladen, über den Kampf ihrer Gesellschaften und die Wahrheit ihrer eigenen Geschichte, die persönliche wie die politische, zu sprechen.
Trotz der offenbar natürlichen Tendenz aller Regierungen, möglichst viel unter Verschluß zu halten, ist die Etablierung der brutalen historischen Tatsachen in den meisten Fällen noch der einfachste Teil des Unternehmens. Aus den verschiedensten Quellen sind beispielsweise die Fakten über die repressivsten Regime Lateinamerikas in den letzten Jahren langsam, aber stetig herausgekommen. Die Vereinten Nationen haben mit ihrer „Wahrheitskommission“, die als Teil des Friedensvertrages den Bürgerkrieg in El Salvador – zumindest fürs erste – beendet hat, dort eine wichtige Rolle gespielt. In Chile, Argentinien und Paraguay, um andere Länder dieses Kontinents zu nennen, ist die Wahrheit darüber, wer wen ermordet hat, auf wessen Befehl und in welchen Funktionszusammenhängen, oft durch die Aktivitäten lokaler Grassroot- und Menschenrechtsgruppen herausgekommen, manchmal sogar unter Mithilfe von Regierungen – und manchmal auch aus Versehen, wie in Paraguay.
Psychosomatisches Erinnern in Guatemala
Die Wahrheit zu wissen ist jedoch nicht genug, sie muß auch gesagt werden. Einige Beispiele zeigten, daß der Druck auf Menschen, ihre Geschichte nicht zu erzählen, weiter unglaublich stark sein kann.
Im Gegensatz zu El Salvador ist Guatemala bis heute im eisernen Griff eines Bürgerkrieges, der das Land seit dreißig Jahren verwüstet. Die Psychologin und Anthropologin Judith Zur hat bahnbrechende Forschungen über die Wirkungen des Krieges auf die Bevölkerung angestellt. Zwei Jahre lebte sie mit den Hochlandindianern von El Quiché, wo sich der Krieg besonders schwer ausgewirkt hat.
Anders als in anderen Ländern Lateinamerikas ist die Präsenz einer indigenen Gesellschaft in Guatemala stark. Die meisten Erhebungen gehen davon aus, daß mindestens 60 Prozent der Bevölkerung von den ursprünglichen Bewohnern, den Mayas, abstammen; das ist der höchste Prozentsatz in einem Land dieser Region. Zwar hat der Bürgerkrieg mehr mit der Verteilung von Land als direkt mit Ethnizität oder Kultur zu tun, aber seine Folgen kommen einem Ethnozid gefährlich nahe. Und obwohl die große Mehrheit der Menschen, deren Leben Dr. Zur erforscht hat, am Krieg nicht teilnehmen, hat eine Regierung nach der anderen (bis 1993) sie als natürliche Verbündete der URNC-Guerilla angesehen. Diese Fehleinschätzung ist die Wurzel für die unzähligen willkürlichen Militärangriffe, die ganze Dörfer in El Quiché und anderswo vernichteten.
Das neue an Judith Zurs Arbeit ist, daß sie unmißverständlich zeigt, wie äußere, politische Repression sich spiegelt und verstärkt wird in psychischer, also innerer Unterdrückung und Selbstzensur. Guatemala, so Zur, ist eine Gesellschaft, in der man jeden Ausdruck von Wut vermeidet, das heißt, die notwendigen Gefühlsreaktionen auf die Verbrechen des Krieges unterbleiben, weil sie die Menschen zusätzlich gefährden. Diese Emotionen finden deshalb nur über den Umweg physischer Symptome, besonders beispielsweise Hauterkrankungen, die sie bei vielen Menschen angetroffen hat, ihren Weg nach außen.
Das Klima des Terrors, das in Guatemala herrscht, macht jedes Sprechen über die Erfahrung des Krieges extrem riskant. Die Welle extremer Gewalt, genannt la violencia, die ihren Höhepunkt in den achtziger Jahren erreichte, hat tiefe Wunden geschlagen. Wenn ganze Dörfer in Brand gesetzt und alle Einwohner dahingeschlachtet werden können, nur weil vermutet wird, daß hier vielleicht Rebellen Schutz finden – welcher Überlebende solcher Massaker wird offen sprechen und Zeugnis ablegen wollen von dem, was er gesehen hat und was seinen Angehörigen geschehen ist?
Die allzu begreifliche Furcht vor Repressalien jedoch erzeugt immer weitergehende, immer subtiler sich verästelnde Dämme gegen die Wahrheit. Zur erlebte, daß die Witwen Ermordeter manchmal über die erlittene Gewalt sprechen konnten, wenn auch ausschließlich untereinander und nur in sehr kleinen Gruppen. Aber sie bemerkte, daß selbst hier die immer gleichen Geschichten immer wieder und wieder erzählt werden, bis sich langsam kleine Veränderungen einstellen, fiktionale Elemente in die Erzählungen einsickern und den Prozeß der mühsamen Aufarbeitung von etwas, was nicht offen benannt werden kann, verfälschen. So wird noch Selbstdarstellung und Spiegelung zu einem Mythen begründenden Vorgang.
Die Rolle der Sprache selbst ist hier enorm wichtig. In einer so brutalen Gesellschaft wie der Guatemalas wird Sprache auf gefährliche Weise politisiert. Der Gebrauch euphemistischer Ausdrücke wie „Verschwinden“ und selbst la violencia tragen Bedeutungen in sich, die offen anzuerkennen gefährlich wäre. Die Möglichkeit jedoch, daß die Sprache das Klima des Terrors unterlaufen könnte, wird negiert, wenn Unterdrücker und Unterdrückte das gleiche verharmlosende Vokabular benutzen. Solange es keine Sprache gibt, die den Frauen erlaubt, die „Wahrheit“ auszusprechen, haben sie keine andere Wahl als Komplizinnen ihrer eigenen Unterdrückung zu sein. Und die Wahrheit versickert in noch tieferen Schichten des Bewußtseins.
Deutlich wurde dies, als 1989 nahe Chichicastenango ein Massengrab entdeckt wurde. Hiermit trat völlig unbezweifelbar ein Beweis von Unterdrückung zutage – und nicht ein Angehöriger bekannte sich zu den Opfern. Denn derart öffentlich die Wahrheit anzuerkennen, wäre aus zwei Gründen gefährlich gewesen. Erstens hätte es bedeutet, vor allen Leuten anzuerkennen, daß der Staat in der Tat Verbrechen begangen hat – und in einem Land, in dem eine alles dominierende Kultur von Nichtbestrafung und totalem Mangel an Rechenschaftspflicht herrscht, wäre solch eine Anerkennung nichts anderes als ein Akt der Subversion. Und zweitens hätten die überlebenden Angehörigen der Wahrheit nicht mehr ausweichen können, hätten sie auch die eigenen Verharmlosungen und Lügen entlarven müssen, mit denen sie die traumatisierende Wucht des Erlebten lange zu mildern versuchten.
Jede Kultur hat ihre Trauerrituale, und für die Nachkommen der Mayas ist der Tag der Toten wichtiger Bestandteil ihrer Verarbeitung eines Todes. Solange sie jedoch unfähig sind, öffentlich die Wahrheit über die Vergangenheit anzuerkennen und ihre Toten einzufordern, kann es keine Verarbeitung geben. Die Toten bleiben „Verschwundene“, und ihre Identität wird ihnen bis zum letzten Moment verweigert. Der Krieg gegen die Erinnerung, wie Judith Zur es nennt, wird so gewonnen.
Angst vor Repression und Scham in Korea
Ein zweites Beispiel, von dem in London die Rede war, zeigte, wie die Unterdrückung von Wahrheit Jahrzehnte dauern kann. Erst jetzt, fünfzig Jahre nach dem Geschehen, sind koreanische Frauen, die – manche als Kinder – vom japanischen Militär während des Zweiten Weltkrieges von zu Hause entführt und zur Prostitution mit Soldaten gezwungen wurden, an die Öffentlichkeit getreten und haben über das ihnen Angetane sprechen können. Auch in ihrem Fall war der Druck zu schweigen überwältigend. Wer von ihnen nach dem Krieg nach Korea zurückkehrte, schwieg aus Angst vor den Repressalien einer Kultur, die Frauen für ihre Keuschheit und Jungfräulichkeit würdigt; jeglicher Hinweis auf sexuelle Verfehlung – als die auch das Vergewaltigtwerden gilt –, hätte nur den Frauen selbst geschadet. Am Ende zwang die Armut einige Frauen, das Tabu und damit ihr Schweigen zu brechen. Nur die
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Aussicht auf dringend benötigte Kompensationszahlungen konnte sie dazu bringen, sich der Schande und den Demütigungen auszusetzen, die mit dem Aussprechen der Wahrheit verbunden waren.
Am Ende ist das Veröffentlichen ihrer Geschichte für die Frauen ein befreiender Prozeß gewesen. Das Aussprechen der Wahrheit hat ihnen ermöglicht, sich endlich mit ihrem Trauma zu konfrontieren und erste, wenn auch zögernde, Schritte zu machen, um das Geschehen schließlich hinter sich lassen zu können. Vor zwei Jahren noch war nicht eine einzige Frau bereit, sich öffentlich zu ihren Schicksal zu bekennen. Inzwischen hält ihre Organisation, der „Korean Council for the Women Drafted for Sexual Slavery“, wöchentliche Demonstrationen vor der japanischen Botschaft in Seoul ab, um die Öffentlichkeit auf ihre Not aufmerksam zu machen.
Die Verschwörung des Schweigens ist jedoch weiter in Kraft: Von den mehr als 100.000 Frauen, die nach Japan verschleppt wurden (von denen viele den Krieg allerdings auch nicht überlebt haben), haben sich bisher weniger als 200 gemeldet. Wenigstens hier, so scheint es, ist die Wahrheit also an die Oberfläche gekommen und anerkannt worden, das heißt, die japanische Regierung muß sich mit der Zahlung von Kompensationen beschäftigen. Die Funktion der Wahrheit ist es, deutlich zu trennen zwischen denen, die schuldig, und denen, die unschuldig sind. Denn, so Judith Zur noch einmal, wenn straflos davonkommt, wer schwere Verbrechen begangen hat, dann ist keiner mehr schuldig und keiner mehr ohne Schuld.
Geteilte Schuld in Südafrika
In Südafrika ist die Situation, verglichen mit Guatemala, schon weiter entwickelt. Die Apartheid ist besiegt, die Wahrheit über sie wohlbekannt und das Land schon ein kräftiges Stück weitergekommen auf dem schwierigen Weg in ein von einem Grundgesetz garantiertes demokratisches System. Aber auch heute ist die ganze Wahrheit über die Vergangenheit noch nicht akzeptiert von denen, die sie gelebt haben. Nach Auffassung des Schriftstellers und Rechtsanwalts Albie Sachs, der bei der Formulierung des neuen Grundgesetzes für Südafrika eine wichtige Rolle gespielt hat, ist von wesentlicher Bedeutung, daß die Menschen auf beiden Seiten des Kampfes auch die Exzesse anerkennen, die sie sich haben zuschulden kommen lassen. Erst dann kann wirkliche Vergebung stattfinden.
Der ANC ist ein Stück in diese Richtung gegangen mit seiner internen Wahrheitskommission, die Aktivitäten der Mitglieder während des Befreiungskampfes untersucht. Ein schmerzlicher Prozeß, sagt Albie Sachs, aber ohne ihn kann man kaum mit sich selbst ins reine kommen – und erst recht nicht mit der anderen Seite. Wenn frühere Feinde jetzt als Mitbürger nebeneinander in einem neuen Land leben wollen, müssen sie diesen Prozeß akzeptieren. Zur Zeit ist es noch so, daß diejenigen, die den Apparat der Apartheid – als Richter, Polizisten, Verwaltungsbeamte und so weiter – aufrechterhielten, sich lieber auch als Opfer darstellen, die sozusagen gezwungenermaßen und nur ungern dem System zu Diensten waren. Aber auch sie, so Sachs, können nicht frei werden, ohne sich zu ihrer Schuld und Schande zu bekennen. Denn so sehr dem moralischen Blick beide Seiten als absolute Gegensätze erscheinen müssen, so teilen Täter und Opfer doch die Vergangenheit miteinander.
Wie die Opfer ihr Leiden, müssen Täter ihre Schuld konfrontieren. Erst dann können beide Seiten die Rollen – von Täter und Opfer – hinter sich lassen und als Gleiche zusammenleben. Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist, wie Sachs es versucht, die notwendige Diskussion öffentlich zu führen. Nur das kann die auf beiden Seiten herrschenden Gefühle der Angst und Scham auflösen.
Führt Amnestie zu Amnesie?
In El Salvador, Argentinien und womöglich demnächst auch in Südafrika hat der Eifer, eine neue Gesellschaft aus den Ruinen von Bürgerkrieg und Diktatur entstehen zu lassen, zur Verabschiedung pauschaler Amnestiegesetze für Menschenrechtsverletzungen geführt – als könnte man die Gräben so einfach zuschütten und bei Null wieder anfangen. Meist sind solche Amnesieversuche diktiert von dem simplen Bedürfnis, massenhaft Karrieren zu retten und Machtpositionen auch unter den neuen Bedingungen beizubehalten. Präsident Christiani zum Beispiel ließ kaum einen Tag nach der Publikation des Berichts der UN-Wahrheitskommission verstreichen – der im übrigen für nahezu alle Verbrechen der jüngeren Vergangenheit die staatlichen Sicherheitskräfte verantwortlich macht –, bevor er eine Amnestie für alle Vergehen aus der Zeit des Bürgerkrieges erließ.
Die Wunden der Vergangenheit können jedoch nur durch eine offene Anerkennung der ganzen Wahrheit, der persönlichen und politischen, geheilt werden. Mit Hexenjagden als Selbstzweck ist nichts zu gewinnen. Wenn eine Gesellschaft aber mit aller Macht wieder zusammenkommen und tiefe Wunden mit allzu simplen Mitteln heilen will, ist durch das Abschließen von Kapiteln und Verdrängen von Wahrheiten – bei Vermeidung des vollen Anblicks der Wahrheit – sehr wohl einiges zu verlieren. Zu viele Menschen, deren immenses Leid durch Verschweigen noch verdoppelt wurde, rufen jetzt weltweit nach Frieden und Gerechtigkeit. Beides kann nur durch Anerkennung ihrer Wahrheit erreicht werden. Es ist höchste Zeit, daß ihre Stimmen gehört werden.
Adam Newey ist freier Journalist und Mitarbeiter von „Index on Censorship“. Erstveröffentlichung.
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