Die kollektive Amnesie der Letten

Ein Besuch bei ehemaligen Kollaborateuren in Lettland: Mit Deutschen zusammengearbeitet und vom Holocaust nichts gewußt / Heute hält das Hakenkreuz wieder Einzug  ■ Aus Riga Matthias Lüffkens

Mit westlichen Augen betrachtet, haben die Letten ein leicht gestörtes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit: Vor dem Freiheitsdenkmal in der Innenstadt in Riga steht seit einem Jahr wieder eine Ehrenwache in lettischer Vorkriegsuniform, die der deutschen Wehrmachtsuniform zum Verwechseln ähnlich sieht. Um sich von der 50jährigen Sowjetzeit zu distanzieren, führen die Letten, die an ihren Vorkriegsstaat anknüpfen, nun wieder dessen Symbolik ein. So auch das Hakenkreuz, das man in Riga als heidnisches Feuerkreuz versteht, das zufällig durch einen gewissen Herrn Hitler verunglimpft worden sei. Hätte die lettische Luftwaffe Flugzeuge, würde auch das Haken-Feuerkreuz, das seit 1926 Abzeichen der Luftwaffe war, wieder über den lettischen Himmel ziehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit hat es bisher nicht gegeben.

Die Letten weisen auf die tragische Geschichte ihres Volkes während des Krieges hin: Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wird das Land von der Sowjetunion okkupiert und annektiert. Der Einmarsch der Roten Armee bringt dem jungen Land eine Terrorherrschaft, unter der Zehntausende Letten auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien verschleppt werden. Erst der deutsche Überfall auf die Sowjetunion ein Jahr später macht diesem Grauen ein Ende. Angeblich wurde so eine zweite, für den Juli geplante Deportationswelle verhindert.

„Für uns war der Einmarsch der Deutschen eine Befreiung“, erinnert sich Alexander Neuland, einer der wenigen Deutschbalten, die in Lettland geblieben sind. Mit seinem Fahrrad ist er der Front entgegengefahren, um sich als Freiwilliger „im Kampf gegen den Bolschewismus“ zu melden. Doch anfangs wurden gar keine Letten in die Wehrmacht aufgenommen. Sie durften nur in Polizeibataillonen dienen. Erst als sich im März 1943 das Schicksal bereits gegen Hitler-Deutschland wendete, wurden rund 146.000 Letten in zwei „Lettische Freiwilligen-SS- Legionen“ eingezogen. „Unser Unglück war, daß wir zwangsweise eingezogen wurden und die Legionen den Namen SS trugen“, erklärt Visvaldis Brinkmanis, Berater der rechtsradikalen „Vaterlands- und Freiheitspartei“ im lettischen Parlament. Als 20jähriger hatte er die Wahl zwischen Reichsarbeitsdienst in Deutschland oder der Legion. Er entschloß sich, mit der Legion Lettland zu verteidigen. „Wir waren ganz einfache Frontsoldaten“, so Brinkmanis. Nicht für das Dritte Reich, sondern für ein freies Lettland habe er gekämpft, behauptet auch Rolands Kovtonenko, Leiter des Veteranenverbands „Falken der Daugava“. Die ehemaligen Legionäre geben sich heute gerne als lettische Freiheitskämpfer aus. Gerade diese Geschichtsdarstellung wird von Historikern der Jüdischen Gemeinde in Riga mit dem Argument angezweifelt, daß jeder, der für Deutschland kämpfte, wußte, was damit verbunden war. Doch mit Judenverfolgungen hätten die SS- Legionäre gar nichts zu tun gehabt, behaupten die Überlebenden heute. „Davon wußten viele gar nichts“, meint Brinkmanis, der gerne unterstreicht, daß in Lettland keine staatliche Struktur an Judenverfolgungen beteiligt gewesen sei, da Lettland als Staat ja gar nicht mehr bestanden habe. Daß einige Letten durchaus maßgeblich beteiligt waren, wird dabei vergessen. In einem neuen Schulgeschichtsbuch wird die Judenverfolgung in Lettland mit einem Satz abgetan. Die kollektive Amnesie geht durch das ganze Volk. Auch Parlamentspräsident Gorbunovs sprach zum Jahrestag der Judenverfolgung von einer „gewissen Schuld des jüdischen Volkes“, eine Äußerung, für die jeder Politiker in Deutschland hätte seinen Hut nehmen müssen.

Die ehemaligen Legionäre gedenken heute wieder den sechs großen Schlachten zur Verteidigung der Kurlandfestung, in der die 15. und 19. Lettische Legion bis zum bitteren Ende ihren Mann gestanden hätten. „Der Kurlandkessel war das einzige Stück Land, das nicht von der Sowjetarmee besetzt wurde“, erklärt Alexander Neuland stolz. Heute stehen Gedenksteine an den Kriegsschauplätzen. Nach der Kapitulation wurden die lettischen Legionäre zu Tausenden als Verräter am sowjetischen Vaterland in sibirische Straflager geschickt. Alexander Neuland blieb 10 Jahre im Arbeitslager Workuta.

Seit 1989 kümmern sich die „Falken der Daugava“, ein Verein, der in Anlehnung an die paramilitärische Vorkriegsorganisation „Falken Lettlands“ gegründet wurde, um die überlebenden lettischen Frontsoldaten. „Nicht um sie zu ehren, sondern um die Interessen der Veteranen zu vertreten, die derzeit ein sehr schweres Leben haben“, so Kovtunenko. Von der sowjetischen Propaganda wurden die lettischen Legionäre als Faschisten verschrien und von den Behörden verfolgt. Heute wollen rund 220 lettische Kriegsversehrte von der deutschen Bundesregierung Unterstützung. Bisher haben dreizehn von ihnen Geld erhalten.

Bei einigen ehemaligen Frontkämpfern, die zu Sowjetzeiten als Antisemiten und Faschisten galten, treten die alten Ansichten wieder zutage: „Die Juden haben es verdient“, so Neuland, der sich mit seinen rechtsradikalen Ideen brüstet. Auch Visvaldis Brinkmanis warnt vor einer jüdischen Verschwörung. Die Ansichten einiger ehemaliger Legionäre sind bei weitem nicht allgemeingültig für alle Letten. Doch viele würden ihnen in einem zustimmen: daß die 50jährige sowjetische Okkupation viel schlimmer gewesen sei als vier Jahre Naziherrschaft.