Wie man Zuversicht inszeniert

Drinnen tagten 1.000 Delegierte und ein Kanzler, draußen stand der kleine CDUler mit seinem Pappschild. Die Delegierten bedurften der Führung. Beobachtungen am Rande des Parteitages  ■ von Johannes Schweikle

Übers Fernsehen hat Günter Hauff erfahren, daß die CDU in Hamburg Parteitag hält. Da hat er sein selbstgebasteltes Holzschild genommen und sich in Leipzig ins Auto gesetzt, „um denen zu zeigen, was 'ne Harke ist“.

Jetzt steht der 43jährige im Schnee vor dem Hamburger Congreßzentrum, es hat ein paar Grad unter Null, und die Parolen auf seinem Schild sind einigermaßen wirr. Die Wiedervereinigung hat ihm einen auberginenfarbenen Anorak beschert, aber das enteignete Haus seiner Eltern in Meuselwitz/Thüringen will die Treuhand einem Investor aus dem Westen zuschanzen, sagt Günter Hauff.

Deshalb will er hier, gleichsam vor den Augen und Ohren der Partei, die er vor vier Jahren gewählt hat, seiner „verzweifelten Kampfeshoffnung“ Ausdruck verleihen. Er ist einer von „den Menschen draußen“, wie sie drinnen, im Kongreßpalast aus Glas und Beton, gerne genannt werden.

Aber die CDU hört Günter Hauff nicht. Am vergangenen Montag nachmittag ist sie besoffen. Die 1.000 Delegierten haben sich an der Rede berauscht, mit der Helmut Kohl den Parteitag eröffnet hat. Eineinhalb Stunden hat er geredet. Und der gleiche Helmut Kohl, der am Morgen den Parteitag wie einen Gottesdienst eröffnete, wie ein Stehaufmännchen beim Auspendeln, der steht jetzt wie eine deutsche Eiche auf dem Podium und scheint aus dem Rednerpult herauszuwachsen.

Der Kanzler redet wie ein Patriarch, der kränkelte und von dem die Kinder nicht mehr genau wußten, ob er noch alles richtig auf die Reihe kriegt. Aber jetzt hat er die große Familie zusammengetrommelt und beschwört eindringlich die alten Tugenden. Er erinnert an die tapferen Verwandten, die bei Eis und Schnee in Niedersachsen für die Sache der Familie in den Wahlkampf ziehen, er spricht vom gemeinsamen Glück im vereinten deutschen Vaterland. Auch die Rechtsradikalen berühren ihn in Kategorien der Gefühligkeit, sie sind eine Schande für unser Land, aber natürlich sind sie nur so schandbar, wie es die Linksradikalen auch sind.

Ein paar junge Delegierte feixen, als der Vorsitzende von den Singggls spricht, oder als er empfiehlt, dem Aufschwung Ost zuliebe das Baugesetzbuch für fünf Jahre auf Eis zu legen. Aber der Kraft und Entschlossenheit seiner Rede („Wir werden gewinnen, wenn wir vor niemandem in die Knie gehen“) können sich die 1.000 Delegierten nicht entziehen, und auch die 1.000 Journalisten nicht. Am Schluß, als Kohl den Pioniergeist der Nachkriegszeit beschwört, wird seine Stimme brüchig, und auf der Videowand, die sein Gesicht metergroß vor tiefblauem Hintergrund zeigt, sieht man die Lider blinkern. Die Partei klatscht sieben Minuten im Stehen, „Helmut, Helmut“.

Eigentlich könnte die CDU jetzt, am Montag um 13.30 Uhr, ihre Mitgliederversammlung beenden. Ihr Ziel hat sie bereits erreicht: Der Vorsitzende hat der Partei vor den kommenden Wahlen Zuversicht und Stärke eingeflößt, und die Partei steht wie ein Mann hinter dem Vorsitzenden. „Was du nach der Rede im Foyer hörst, das wird in den nächsten Wochen an der Basis erzählt“, sagt der Generalsekretär eines CDU- Landesverbandes. Wenn das stimmt, wird in den Kreisverbänden das Parteitagsmotto widerhallen: „Wir packen's an!“

Erste Früchte trägt Kohls Rede am Hamburger Gänsemarkt. Auf diesem Platz in der Nähe des Jungfernstiegs hat der CDU-Landesverband ein „Schaufenster des Parteitags“ eingerichtet. Auf zwei Monitoren werden die Parteitagsreden übertragen, und vor einem bescheidenen Stand warten CDU- Promis auf Bürger. Aber auch hier ist es kalt, und die wenigen Passanten, die stehenbleiben, stellen den Politikern keine Fragen, sondern nerven mit Vorwürfen („Mit den Ideen von gestern kann man nicht die Probleme von heute lösen“).

Da folgt Siegfried Jaschke, finanzpolitischer Sprecher im Thüringer Landtag, dankbar den Argumentationslinien, die Kohl in seiner Rede skizziert hat. Wenn Jaschke der SPD ein „Eiern in der Weltpolitik“ vorwirft, fehlt ihm zwar noch der Biß, mit dem der Kanzler die Sozis außenpolitisch abgemeiert hat. Aber das mit dem Baugesetz, das in den Kühlschrank gehört, setzt Jaschke schon ganz pfiffig um: „Als im Westen das Wirtschafstwunder war“, sagt der Thüringer, „da konnte man schnell 'ne Hütte hinstellen, ohne vorher die Grünen zu fragen.“

Daß erwachsene CDU-Politiker derart der Führung bedürfen, erleichtert der Parteitagsregie die Arbeit. Die Delegierten sollen ja noch das Grundsatzprogramm verabschieden, das die Partei seit gut zwei Jahren diskutiert. Jeder Kreisverband konnte an Punkt und Komma des Entwurfs kritteln, und alle Änderungsanträge zusammen ergeben einen zwei Pfund schweren 600-Seiten-Wälzer, der jedem Delegierten vorliegt.

Über alle 2.400 Anträge muß der Parteitag befinden, und die Antragskommission hat zu jedem einzelnen Antrag eine Empfehlung formuliert. „Wenn die Kommission Ablehnung empfiehlt, wird es schwer“, sagt Martin Herkommer. Deshalb sieht der Delegierte aus Schwäbisch Gmünd schon am Montag schwarz für den Antrag B 271 seines Landesverbandes, der neben der Wehrpflicht noch eine allgemeine Dienstpflicht fordert.

Am Sonntag abend, als die Landesverbände zusammengluckten, haben die Schwaben ihr strategisches Vorgehen abgesprochen. Das Schicksal der allermeisten Anträge liest sich so: Keine Wortmeldung gewünscht, Abstimmung per Handzeichen, bei wenigen Gegenstimmen angenommen. Wenn die Kommission eine unerwünschte Diskussion wittert, schiebt sie das Thema auf die lange Bank und empfiehlt, es an die Bundestagsfraktion zu überweisen.

Als aber am Dienstag Antrag B 271 an der Reihe ist, schicken die Schwaben ihren Generalsekretär Kauder und Ministerpräsident Teufel in die Bütt. Und dann wird selbst die Regie überrascht: Der Parteitag diskutiert sich, von keinem vorhergesehen, an diesem Antrag fest. Der Saal, in dem Delegierte Zeitung lesen, per Minifernseher das Mannschaftsspringen in Lillehammer verfolgen und gelegentlich ihr Handzeichen geben, spaltet sich in zwei Lager, und zum erstenmal sieht die Stimmzählkommission soviel Gegenstimmen, daß der Parteitag schriftlich abstimmen muß. Die Schwaben unterliegen knapp, aber Martin Herkommer verbucht das als Achtungserfolg.

Laut Parteiengesetz ist die Mitgliederversammlung das oberste Organ der Partei. Aber die Antragskommission ist der (un)heimliche Herrscher der Mitgliederversammlung. So gelingt der Volkspartei CDU die Quadratur des Kreises: Die Basis hat das Gefühl, bei der Verabschiedung des Grundsatzprogramms gebraucht zu werden, und trotzdem hat der Bundesvorstand alles im Griff.

Sollten die Delegierten beim Tagesordnungspunkt „Aussprache“ das Bedürfnis nach Kritik an der Parteiführung verspüren, so hat auch hier die Regie ihr möglichstes getan, diese zu neutralisieren. Sie hat die Aussprache mit Bedacht in eine Zeit gelegt, in der normale Menschen Mittagspause machen. Als etwa die Delegierte Körtner ihre Parteifreunde auffordert, nicht immer das zu schlucken, „was uns vorgekaut wird“, da mampfen die meisten Parteifreunde gerade einen Stock tiefer beim Parteitagssponsor „McDonald's“. Damit Ursula Körtners Votum aber keinen auf dumme Gedanken bringt – sie fordert, den Maurern nicht das Schlechtwettergeld zu streichen –, hält Sozialpopulist Norbert Blüm eine Gegenrede, und die anwesenden Delegierten lehnen den Antrag brav ab.

Selten ist der Saal mehr als halb voll. Der Rest steht grüppchenweise in der Lobby. Zwischen dem Eine-Welt-Laden der „Jungen Arbeitnehmer“, die bunte Holzpapageien verkaufen, und der Milchbar des Fachverbandes Kartonverpackungen“, der den Grünen Punkt anpreist, als sei nichts gewesen, zwischen RCDS-Stand und der „Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt“ tratscht die Großfamilie CDU. Da suchen Männer, die unter akutem Karriereknick leiden, die Nestwärme der Partei. Der geschaßte Magdeburger Regierungssprecher dreht seine Runden und sagt auf Nachfrage, das sei schon ein komisches Gefühl, wenn man 20 Jahre lang geackert und jetzt plötzlich nichts mehr zu tun habe.

Deckenlautsprecher übertragen die Debatten aus dem Saal, sogar auf dem Klo. Als Reinhard Göhner seine Rede zum Grundsatzprogramm hält, stellen sich im Foyer zehn Delegierte aus Nordrhein- Westfalen zum Gruppenfoto auf.

Überhaupt sind Pocketkameras bei den Delegierten recht beliebt. Immer wieder geht einer ans Podium, um einen der Spitzenpolitiker abzulichten. Es gehört zu den Attraktionen des Parteitags, daß der kleine Funktionär aus dem Kreisverband, der für die dreitägige Veranstaltung inklusive Fahrt und Übernachtung schnell 1.000 Mark aus eigener Tasche los ist, die Promis aus der Nähe erlebt.

Der berühmteste aller VIPs entzieht sich freilich der Tuchfühlung. Es gehört zum Personenkult um den Bundeskanzler, daß der ständig durch Mitarbeiter oder Sicherheitsleute abgeschirmt wird. Beim bunten Abend etwa, der zu jedem Parteitag gehört, stehen Delegierte und Journalisten locker am Buffet, und plötzlich gibt's für einige was ins Kreuz, weil ein Trupp Bodyguards dem großen Vorsitzenden eine Gasse durchs Parteivolk bahnt. Aber diese majestätische Distanz ist ja auch angemessen für den Mann, dem der katholische Geistliche im Eröffnungsgottesdienst in byzantinischem Stil „für sein allumfassendes Wirken in Europa und der Welt“ gedankt hat. Am Dienstag tagt die Versammlung ohne Pause von 9 bis 12.30 Uhr und verabschiedet am Mittwoch störungsfrei das Grundsatzprogramm „Freiheit in Verantwortung“, wobei eine Delegierte aus Baden-Württemberg mit ihrer kühnen Enthaltung das einstimmige Votum stört. Am Mittwochnachmittag, zwei Stunden früher als geplant, singt die CDU das Deutschlandlied. Einige haben Tränen in den Augen.

Ach ja, sogar Günter Hauff stand im Kampf um das Haus seiner Eltern kurz vor dem Erfolg. Er stieß am Montag nachmittag vor dem Congreßzentrum auf eine Demonstration von Hamburger Mieterinitiativen. Vielleicht 150 Leute kamen zusammen, und als sie kurz vor sechs Fackeln anzündeten, blickten ein paar Augen des Parteitags aus dem vierten Stock zu ihnen herunter. Eine Delegierte sagte: „Das ist ja schlimm für die.“ Aber sie meinte nicht Günter Hauff, auch nicht den Obdachlosen, dessen graue Zahnstummel sie nicht sah. Ihr Mitleid galt den Polizisten, die an der Absperrung in der Kälte standen.