Rede eines Sekretärs

■ Alle kritisieren Präsident Jelzin

Moskau (taz) – Boris Jelzin hat versucht, es allen recht zu machen, und stellte so keinen zufrieden: Am Tag nach der Grundsatzrede, die der Präsident vor dem Parlament gehalten hatte, erntete er Kritik von Anhängern und Gegnern. „Das war eine sehr schöne Rede, die mich an die Referate der Generalsekretäre der KPdSU erinnerte“, sagte der Sprecher der ultranationalistischen Liberaldemokraten. Sein Chef Schirinowski beklagte, daß Jelzin keine einzige konkrete Maßnahme angekündigt habe: „Ja, wenn er gesagt hätte: Jetzt gebe ich drei Monate Zeit, um zehntausend Verbrecherbanden zu vernichten ...“ Und während die Gegner Jelzins eine Kritik des Reformkurses in der Rede vermißten, war seinen Anhängern diese Kritik und die Ankündigung einer Korrektur der Wirtschaftsreformen bereits zu weitgehend.

Unklar blieb auch am Freitag, ob Jelzin bereit ist, gegen den Erlaß vorzugehen, mit dem die Staatsduma den Putschisten der Jahre 1991 und 93 Amnestie zugesichert hatte. Der Präsidentensprecher deutete an, daß sich in der Resolution Verfahrensfehler finden ließen. Einige liberale Zeitungen argwöhnten, der Präsident habe Angst vor einem zweiten „jämmerlichen Schauspiel“, analog zu dem im Sande verlaufenen Prozeß gegen die KPdSU. Und auch Michail Gorbatschow meldete sich zu Wort: Obwohl er unter dem August-Putsch sehr gelitten habe, begrüße er den Straferlaß, wenn er zu einer wirklichen Aussöhnung führe.

Aus dem russischen Innenministerium verlautete, daß mehr als 253.000 Personen in den Genuß der Amnestie kommen könnten. Durch den Straferlaß würden rund 20.000 Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen. Den übrigen würden ihre Bewährungsstrafen erlassen. Barbara Kerneck