Die Freiheit hinter der Selbstzensur

■ Malersaal: Premiere von Herbert Achternbuschs Alten-Vision „Der Stiefel und sein Socken“

Necken und Scherzen, Lieben und Spinnisieren, Lust im Alter kann ein großer Spaß sein. Auf jeden Fall Herbert Achternbuschs Tagtraum davon. Wie Mann und Frau und ein Schicksal und ein wohlgefühlter Optimismus im Verschlag zwischen Steinöden in Arizona zusammenleben und den Mut und die Worte nicht verlieren, das ist ein Alter, wie man es sich wünschen tät. Der Dichter eines einzigen Gedichtes Herbert, der sich zu faul zum Gehen von seiner Fanny auf der Mistkarre von Fleck zu Fleck schieben läßt, die froh-frivole Fanny, die sich von Herberts verwurschtelter Phantasie ernährt, wo das Huhn doch kein Ei legen will, diese Koexistenz zweier freier Geister, deren gegenseitig liebende Nützlichkeit auf unverzagtem, ungefesseltem Hirn beruht, läßt einen Blick zu, weit über und hinter jedes Klischee von der behaglichen Verlogenheit einer greisen Ehe.

Es stellt sich hier, wie meist bei Achternbusch-Erzeugnissen, als wenig hilfreich heraus, eine Geschichte nachzuerzählen. Es ist ja gerade der unaufhörlich hervorquellende geistige Freigang seiner Figuren, aus dem sich seine nur scheinbar absurde „Überlebens“-Philosophie moduliert. Seine Suche nach Gesundheit durch äußere Emigration, durch Verabsichtlichung Freudscher Fehlleistungen und Ausradierung zensierender Peinlichkeit führt ja in ihrer Konsequenz zu einer logischen Befreiung von tragischen Hemmnissen.

Neu ist vielleicht nur, daß der Dichter mit dem Alter auch an Tempo gewinnt. Der Stiefel und sein Socken, 1991 geschrieben und letztes Jahr in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, vermißt das Zerdehnende früherer Arbeiten. Und Lore Stefanek, die das Stück für den Malersaal inszenierte, nimmt diesen Rhythmus auf. Sie formt eine groteske, phantastische Komödie, in der man streckenweise Tränen lacht, entnimmt ihr aber dabei die verlockende Vision einer Freiheit im zwischenmenschlichen Umgang, die so wirklich scheint, daß sie Ergriffenheit weckt. Mit Michael Altmann und Christa Berndl spielen zwei Schauspieler, die so wunderbar genau in Achternbuschs Kosmos bewußter Kindlichkeit getaucht sind, daß der Zauber von Menschen, die über sich selbst lachen können, sokratische Altersweisheit versprüht.

Die Zuneigung füreinander verkehrt die scheinbaren Fehler des anderen mit der größten Selbstverständlichkeit in gutmütige Zärtlichkeit. Ob nun Fanny Herberts Vortrag uralter Erinnerungen als freundliche Souffleuse begleitet oder Herbert sich Fannys sexuellen Begierden ergibt und sich mit ihr aus mottenlöchrigen Liebestötern schält, um sich von ihr in den Wald zum GV tragen zu lassen, wie treue Schmetterlinge umkreisen sie sich zutraulich und finden stets einen Nenner, auf dem keiner seine Eigenheit verraten muß. Wie schön.

Till Briegleb