Speckige Vergangenheit

„Das Kaffeehaus“ von R. W. Fassbinder nach Goldoni, im Maxim Gorki Theater: Martin Meltkes Inszenierung hißt die Bewußtseinsflagge, bravourösen Schauspielern zum Trotz  ■ Von Petra Brändle

„Um sechs Uhr früh hat das Leben nur eine Vergangenheit.“ Lustlos sprach er's und morgenschwer, ganz so, als spielte sich das Leben bis in alle Zukunft gegenüber in der Spielhalle ab. Und dennoch steht der alte Kellner Trappolo ordnungsgemäß im leeren Kaffeehaus neben seiner abgetakelten Chefin, die ihren ersten Wermut noch vor dem Kaffee kippt. Diese frühe Morgenstunde hat eine unübersehbar speckige Vergangenheit. Grau hat sie sich auf der Tapete niedergelassen, es riecht nach kaltem Zigarettenrauch und billigem Alkohol. Fassbinders „Kaffeehaus“ nach dem gleichnamigen Stück von Carlo Goldoni ist im Maxim Gorki Theater eine billige Spelunke, in die man sich höchstens auf der Durchfahrt oder mangels anderer Lokalitäten auf einen Kaffee verirren möchte. Im Theater aber ist wieder einmal alles anders. Der Auftakt verspricht einen Ausflug in die Sphären menschlicher Geschmacklosigkeit: Die Wirtin (vorzüglich: Ursula Werner) ist eine jener Frauen, deren roter Karo-Hosenrock genau um das Maß zu kurz ist wie die Frisur zu hoch und die Strähne auf ihrer Stirn zu lang. Sie ist alles in einem: ungehobelt und affektiert; Macho, Kumpel, Macherin und auch Grande Dame mit schlechter Schminke und großem Herz.

Durch die Drehtür ihrer Kneipe nun stolpert, wider alle Erwartungen des Kellners, Venedigs Leben. Die Tür spuckt die windigen Intriganten, Ehebrecher, (Falsch-) Spieler, Verlierer, Huren und verlassene Ehefrauen aus und nimmt sie nach ihrem Parcours durchs Café wieder auf. Ein Kommen und Gehen, das Abwechslung verspricht. Besonders dann, wenn der Stoff sämtliche Gier nach Klatsch befriedigt und obendrein frei ist von den optimistischen Läuterungen, die Goldonis (Klein-)Ganoven durchlaufen. Das Leben ist eben schlecht, die Menschen (vor allem die Männer im Stück) sind korrupt und feige; die wenigen guten aber, wie Diener Trappolo, ziehen sich auf ihr Kämmerchen zurück und weinen. Der Reigen fängt an mit dem zugezogenen Grafen Leander (Daniel Minetti), der die Hure vom Ort, Lisaura (Gundula Köster), ehelichen will und den braven, aber dämlichen Adligen Eugenio (Hans-Uwe Bauer) beim Spiel um Hab und Ehre bringt. Daß er kein Graf und außerdem ein Falschspieler ist, der von seiner Ehefrau Placida (Ruth Reinicke) zuletzt am feinen Kragen gepackt und nach Hause geschleppt wird, ist reichlich theatralische Unterhaltung. Möchte man meinen.

Doch da spielt die Regie, und auch leider so mancher Schauspieler, nicht mit. Regisseur Martin Meltke stellt sich selbst ein Bein und zieht unnötigerweise gleich mehrmals die Notbremse. Brav wird der Text auch da heruntergebetet, wo er drastisch nach Kürzungen verlangt. Da wir außerdem in einer kommunikationsgestörten Welt leben, durften sich die Sprechenden minutenlang nicht ansehen. Wie Schulkinder schließlich müssen die Akteurinnen und Akteure traditionsbesessen beim ersten Auftritt zur Erkennungsmelodie aus der Musikbox an die Rampe treten und ihr sich selbst charakterisierendes Sprüchlein aufsagen. Was bei Wolfgang Hosfeld als bluthochdruckgesichtigen Don Marzio noch ein wunderbar (selbstredendes) schmieriges Tänzeln ist, wird in der Wiederholung bei anderen Figuren zum Stolperstein. Der Gipfel solcher Phantasielosigkeit ist erreicht, als „der Träger“ (Bekele Tefera), zu „seinem“ Rap-Song in Minimallautstärke unendlich lange putzen darf. Hier versucht ein Theater, die Bewußtseinsflagge zu hissen, läßt den „Neger“ in einer afrikanischen Sprache zu uns reden – und versagt auf ganzer Linie, da die Rolle Teferas gerademal Statistenqualität hat. Eine theatralische Sklaverei ist das, nichts weiter.

Selbst wenn die vier Schauspielerinnen, allen voran die popcornfressende Vittoria (Katka Kurze), mit ihrem Können brillieren und auch Daniel Minetti seine fiese Weiberheldennummer mit kleinen und großen Gesten bilderbuchgleich präsentiert, können sie nicht vertuschen, daß es der Regie an Geist und Ideen, vor allem aber an innerer Balance mangelt. So steht der eruptive Showdown unvermittelt als sinnentleertes Tableau am Ende. Wäre da nicht die köstlich betrunkene Katka Kurze, man möchte weinen wie Trappolo und in der ruhmreicheren Vergangenheit dieses Theaters versinken.

„Das Kaffeehaus“, Regie: Martin Meltke, Bühne: Matthias Kupfernagel. Mit Ursula Werner, Daniel Minetti u.a. Nächste Vorstellung am 5.3., Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, Tel.: 208 27 48