Silberkleid für die schaurige Schachtel

■ 100.000 Quadratmeter aluminiumbeschichtetes Polypropylen werden dem Reichstag April 95 übergestülpt: Berlins Politiker frohlocken und träumen von Touri-Herden / Christo sucht noch Aufpasser

Berlin fehlt es an Selbstbewußtsein, findet der schmächtige Exil- Bulgare und Berufsverhüller Christo Javacheff, 58. Die Stadt solle sich trauen, wie New York zu werden. Dazu gehört offenbar ein Reichstag, der zwei Wochen lang Ende April/Anfang Mai 95 durch 100.000 Quadratmeter Stoff seine wilhelminische Fassade versteckt.

Das Jawort für Christos diffiziles Wickel-Werk, das 292 Bonner Parlamentarier am Freitag sprachen, löste unter den Hauptstadt- Politikern diebische Freude aus. Nur Greenpeace verkündete miesepetrig, das aluminiumbeschichtete Reichstagskleid kriege garantiert kein Gütesiegel für ecological correctness, den blauen Umwelt- Engel. Denn wer Aluminium produziere, „verschmutzt die Umwelt, vergiftet die Atmosphäre und heizt das Klima auf“.

Tatsächlich wird der „Wrapped Reichstag“ die Atmosphäre anheizen – das heißt Hunderttausende von Touristen anlocken. Berlins Stadtoberhaupt Eberhardt Diepgen (CDU) sekundierte: „Die Verhüllung besitzt weltweite Ausstrahlungskraft.“ Zwei Takte weniger euphorisch vermutete SPD- Boß Dietmar Staffelt, das Projekt werde Berlin „erheblichen Zulauf“ bringen. Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) sprach von einer „wunderbaren Entscheidung“ – und praktizierte Verbalakrobatik: „Es ist ein Glücksfall der Begegnung von Kunst und Politik, wenn die Berliner den Neubeginn von Parlament und Reichstag in der Stadt mit dem selbstbestimmten Projekt eines der größten Künstler unserer Zeit feiern können!“ Kultursenator Roloff-Momin erklärte, die kostenlose Berlin-PR des Christo – die geschätzten zehn Millionen Hüllen-Mark begleicht er aus eigener Tasche – wirke wie ein Konjunkturprogramm. Berlins Tourismus GmbH rechnet mit 500.000 Touristen und 500 Millionen Mark.

Die 100.000 Quadratmeter große Metallbluse, die in etwa 15.000 Haute-Couture-Abendkleidern entspricht, muß gewebt und zu Stoffbahnen zusammengenäht werden. Ein Jahr lang garantiert das Polypropylen-Stück, das den Neo-Renaissance-Bau bei Sonnenlicht zum Glänzen bringt, 200 bis 300 Arbeitsplätze. Die Brandenburgische Tuchfabrik in Forst, bei der unter anderen BOSS und Karl Lagerfeld fertigen lassen, ist der Favorit für das Reichstagskleid; es muß so riesig wie vierzehn Fußballfelder sein, weil Christos Entwurf einen üppigen Faltenwurf erzwingt. Genauere Anweisungen für die Art und Farbe des sechzig Tonnen schweren Stoffes erwartet der Technische Direktor der Tuchfabrik („Ich kann's noch gar nicht fassen!“) in den nächsten Tagen von Christo persönlich.

Weil die denkmalgeschützte „schaurig-schöne wilhelminische Schachtel“, Spiegel, keinen Kratzer abbekommen darf, wird ihr Dach mit einem Gerüst aus Stahlrohren überzogen. Kräne hieven dann 25 Stoffbahnen auf die Zinnen des Reichstags, die 200 Bergsteiger und Reinhold Messner per Hand abrollen und sturmfest miteinander verknoten. Eine Unterkonstruktion aus Stahlrohren, die mit Gummipuffern in den elf Zentimeter breiten Fugen zwischen den einzelnen Sandsteinen verspannt wird, soll die Fassade heil lassen. Schon beim Einpacken des Pariser Pont Neuf hat Christo diese Täu-Technik angewandt.

Wenn dann der Reichstag – kurz vor seinem Lifting – für zwei Wochen das wichtigste Touristenziel des Kontinents ist, werden Hunderte von Aufsehern im Drei- Schichten-Rhythmus die Freiluftkunst schützen müssen: Schnäppchenjäger heißt die Gefahr. So werden die Aufseher für souvenirgeile Touristen, die selbst vor Scheren nicht zurückschrecken, portionierte Originalstoffquadrate bereithalten.

Am zeitraubendsten, weiß man schon jetzt, werden die Absprachen mit Verwaltungen und organisatorischer Kleinkram sein. Wie läßt sich ein Verkehrszusammenbruch auf der Entlastungsstraße vermeiden? Wie viele Klos und wohin damit? Wer darf Handel womit treiben? Das Gesamtbild soll ja nicht durch häßliche Würstchenbuden getrübt werden.

Ziemlich schnell dagegen wird entschieden, wer als Christo-Botschafter Touristen aufklären und ihnen zweisprachige Faltblätter in die Hand drücken darf und dafür auch ein Salär erhält. Noch sind die Reichstagsverhüller offen für Berliner, die mithelfen wollen. Sie sollen sich per Fax (0211/679 02 63) oder formlos schriftlich bei Wolfgang Volz melden, Birkenstraße 118–120 in 40233 Düsseldorf. Thorsten Schmitz