■ Bündnisgrüner Parteitag in Mannheim
: Was bleibt, sind Realpolitiker

Der Sog des Wahljahres hat die Bündnisgrünen erreicht. Als hätten sie sich vom letzten CDU-Parteitag inspirieren lassen, mündete die kontrovers geführte Debatte um das Wahlprogramm in einer Demonstration der Geschlossenheit. Gerade ein einziger Delegierter fand sich, der mit seiner Gegenstimme dem innerparteilichen Dissens wenigstens einen symbolischen Ort verschaffte. Der Rest – Gewinner.

Es sind der Überlebensdruck nach dem Wahlschock 1990 und zugleich die immer wieder beschworene Aussicht auf die Machtteilhabe am Ende dieses Jahres, die aus den Grünen eine andere Partei formieren. Zwar gelingt es manchen Akteuren noch immer, in der Auseinandersetzung um die letzten identitätsbeladenen Themen der Partei, die Theatralik früherer Debatten wiederaufleben zu lassen. Doch die schrille Tonlage, der Gestus der Empörung und die Selbstgerechtigkeit guter Menschen wirken, wo sie noch einmal bemüht werden, wie ein sentimentaler Nachklang an die Zeit der großen Entscheidungsschlachten.

Deren Wiederaufführung wird es nicht geben. Immer waren die großen Kämpfe, die das öffentliche Bild der Grünen prägten, eher das Substitut für Politik – gerade dann, wenn sie aufgeführt wurden, als ginge es schon auf den Parteitagen um Sein oder Nichtsein. Den Luxus ihrer eskalierenden Dynamik konnte sich die Partei nur leisten, weil alle insgeheim wußten, daß es auf sie nicht ankam, und ein relevanter Teil wollte, daß das so blieb. Doch an diesen Teil der Partei erinnern heute nur noch ein paar überkommene Stilmittel. Übriggeblieben sind Realpolitiker – verschiedener Schattierung.

Die Grünen wollen regieren – alle. So lautet der Konsens. Davon profitiert zuerst Joschka Fischer. Mit jedem der „gewaltigen Schritte“ in Richtung Regierungsbeteiligung wächst sein Nimbus – ohne Zutun. Er demonstriert Gelassenheit, spielt den Zuschauer, während alle ihm dabei zuschauen. Er hat aus dem mühsamen Prozeß grüner Realitätsannäherung längst eine Gesetzmäßigkeit abgeleitet. Wenn die Partei sich bemüht, ihr gerecht zu werden, lobt er, wenn es zu lange hakt, mahnt er. Er scheut das Risiko. Spektakuläre Mißerfolge schmälern den Nimbus. Unvermeidliche Konflikte mit unsicherem Ausgang tragen andere aus.

Mehr Aufwand als Fischer muß Ludger Volmer betreiben, um seiner innerparteilichen Spitzenrolle gerecht zu werden. Auch er ist längst Realpolitiker. Doch Volmer, vom linken Flügel der Partei kommend, kämpft angestrengt darum, die Differenz aufrechtzuerhalten und eine Realpolitik radikalerer Spielart durchzusetzen. Das wirkt eher wie ein Spiel mit doppeltem Boden, das nur deshalb funktioniert, weil die Frage der Realisierbarkeit grüner Beschlüsse – wenn überhaupt – erst später ansteht. Kein grüner Politiker wird ernsthaft annehmen, daß sich etwa die strittigen Forderungen zu Nato und Bundeswehr ab Herbst in Regierungshandeln umsetzen lassen. Sie haben eher die Funktion, den Ablösungsprozeß aus der Oppositionsrolle zu erleichtern. Am Dilemma der Linken ändert das nichts. Denn auch diejenigen, die die Beschlüsse von Mannheim schon als Minimalkonsens begreifen, hinter den die Partei im Falle von Koalitionsverhandlungen „nicht zurückfallen“ dürfe, ahnen, daß es für ein Veto nicht reichen wird.

Aber reicht das Mannheimer Programm, um die Grünen als potentiellen Regierungspartner zu empfehlen? Immerhin, auf einigen Feldern proben die Grünen schon mal das Als-ob. In der Migrationspolitik ist die Position der „offenen Grenzen“ nicht mehr das Dogma. In der Wirtschaftspolitik verstellen keine unanfechtbaren Tabus mehr die Debatten, Ökologie und Ökonomie werden nicht mehr als Gegeneinander diskutiert. Darin noch eher als in den konkreten Einzelforderungen des Wahlprogramms, das ohnehin unter dem drohenden Vorbehalt der Waigelschen Hinterlassenschaft steht, liegt der Fortschritt der grünen Debatte. Die Kluft zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren erscheint kleiner denn je. Die Grünen wollen ihre schmale Chance auf die Bonner Machtteilhabe wahrnehmen. Doch daß am Ende des Jahres der Wille der Bündnisgrünen ausreichen könnte, die großkoalitionär wirkende SPD in eine rot- grüne Regierung zu zwingen, wirkt noch immer wie eine eher exotische Hoffnung. Matthias Geis