■ Nebensachen aus Sofia
: Ein wirklich niedliches Parlament

„Ist es nicht niedlich, unser Parlament, niedlich und gemütlich?“ fragt die Angestellte der bulgarischen „Volksversammlung“ mit einem gewissen Lächeln, das durch seine charmante, ja liebevolle Bösartigkeit besticht. Auf großzügigen, keinesfalls monumentalen, dafür jedoch unbedingt überheizten Korridoren dominiert das warme Rot schwerer Teppiche. Und schwer sind auch die braunen Vorhänge, die von der Decke bis an den Boden reichen. Sie sorgen zwischen weißen Wänden und Säulen für die gewisse Gemütlichkeit.

Von den Presserängen schaut der Besucher hinab in den fast immer schlecht frequentierten Plenarsaal. Oder besser gesagt: Gähned leer ist der Saal zumeist. Die Ränge befinden sich wie auch die Präsidentenloge etwa fünf Meter über dem Niveau des Parketts. Diese Höhe macht sie durchaus dazu geeignet, sich im Bedarfsfall von dort aus in den Tod zu stürzen. Auch Absicherungen, Trennscheiben oder eine ausreichende Berüstung fehlen.

Der liebenswürdige, schon etwas betagte Abgeordnete A. klammert sich sanft an den Arm des deutschen Besuchers. Er weist auf eine Merkwürdigkeit bei Abstimmungen in Bulgariens Parlament hin. Regelmäßig leuchten 180 und mehr Stimmen auf der elektronischen Anzeigetafel, obwohl meistens kaum ein Sechstel der Abgeordneten anwesend ist.

Abgestimmt werde in Sofia per Knopfdruck und Magnetkarte, erklärt er. Die Abwesenden lassen die Magnetkarte in einem an ihren Pult geschraubten Automaten einfach stecken. Die anwesenden Fraktionskollegen gehen dann bei Bedarf drückend durch die leeren Reihen. So einfach ist das.

Er, der Abgeordnete A., sei der einzige im Parlament, der seine Magnetkarte immer bei sich trage. Denn der illegalen Abstimmungspraxis wolle er keinen Vorschub leisten. „Einmal“, beugt er sich vertraulich zum Besucher hin, „war von der ***-Fraktion niemand im Saal. Da hat einer von uns bei ihnen gedrückt und dafür gestimmt, obwohl sie dagegen waren.“ Er lacht: „Ich weiß gar nicht, ob die's gemerkt haben.“

Im Parlament gibt es zwei zahlenmäßig ungefähr gleichstarke Mehrheiten: Dissidenten und Kommunisten. Erstere, eine 100-Prozent-Mehrheit, trifft man, von der zweiten hört man. Zum Beispiel der rundliche Abgeordnete B.: Er gibt ohne weitere Umschweife und Ausreden zu, daß er Dissident war. Sein Vater sei in der monarchistischen Zeit Bürgermeister in einem kleinen Dorf gewesen. Der Sohn sei deshalb als „sozial nicht adäquat“ klassifiziert worden. Und deshalb durfte er erst 1987 in die Partei eintreten. Rektor einer Fakultät sei er da bereits gewesen, und schon Jahre vorher hatte er Parteimitglied werden wollen. Der Abgeordnete B. kann nicht umhin, diejenigen, die ihn als Kommunisten beschuldigen, selbst des Kommunismus zu bezichtigen.

Oder der Abgeordnete C.: Seine juristischen Ausarbeitungen waren sechs Jahre lang „blockiert“. Und auch er zögert nicht einzugestehen, Dissident gewesen zu sein. Die andere, die ***-Fraktion nämlich, sei voller alter Kommunisten. Abgeordneter D., von dieser anderen Fraktion, ist selbst zwar Dissident, bestätigt aber, daß seine eigene Fraktion voller Kommunisten, ja voller ehemaliger Staatssicherheitsagenten sei. Der Parteichef von D. bestreitet das nun wieder: „Ein Gerücht. Propaganda, von den Kommunisten gezielt in Umlauf gesetzt.“

„Ist es nicht niedlich, unser Parlament, niedlich und gemütlich?“ fragte die Angestellte der „Volksversammlung“. Aber warum sind denn nicht klügere Leute Parlamentarier in Bulgarien geworden? „Ja, deshalb! Weil sie klüger sind.“ Die Angestellte sagt das. Sie lächelt verständnisvoll dabei. Keno Verseck