Würstchen auf Stelzen nicht gefragt

■ Auch bei extremem Wetter wollen die Menschen nicht auf die Bahn umsteigen

Was macht ein Hamburger, der am nächsten Tag in Berlin oder Dresden sein muß, wenn selbst der hartgesottene Tagesthemenmoderator nach einem Bericht über Eisglätte und Massenkarambolagen rät, die Autobahn zu meiden? Er denkt nach. Schaut auf das Iglu vor der Tür, in dem sich der treue vierrädrige Gefährte wohlig eingerichtet hat. Der Firmenjurist Johann S. erkennt die Lage: „Alle Termine absagen“, faxt er noch nachts von zu Hause aus an sein Büro. „Nachher fährt mir irgend so ein Trottel noch hinten rein“, denkt er im Einschlafen und träumt vom Apfelkuchen seiner 92jährigen Tante, die er nach Geschäftsschluß in Berlin besucht hätte.

Wenn die Autobahn nicht tiptop in Ordnung ist, sondern sich in eine Eisscholle verwandelt hat, steht es mit den geschäftlichen Beziehungen mit dem Osten nicht zum Besten. Zwei Hamburger Architekten, die Ende vergangener Woche unbedingt eine kleine sächsische Gemeinde von der Notwendigkeit eines Freizeitparks überzeugen wollten, machten eine glatte Bauchlandung. Sie schlugen sich auf Deubel komm' raus mit ihrer Karosse bis nach Dresden durch, schaufelten sich per Hand die letzten Kilometer frei und verpaßten dennoch den Präsentationstermin für ihre Projektpläne um fünf Stunden. Der Bürgermeister hatte das Warten auf die jungen Westler längst aufgegeben und sich dem Schnee vor der eigenen Haustür zugewandt.

Ein schleichender Schmuddelzug alter Bundesbahnart bewegt sich an diesem Tag halb leer von Hamburg nach Berlin. Selbst der Speisewagen wird nur von wenigen Reisenden bevölkert. Mittfünfziger in karierten Sakkos hocken allein vor abgestandenem Bier und lösen Kreuzworträtsel. Auf den Rändern der Mittagsmenüteller türmen sich ausgemusterte Dosenpilze. Draußen scharren die Rehe im Schnee.

Die Menschen im Zug sind keineswegs Umsteiger. Sie fahren Bahn, weil sie sich zu alt für den Kampf am Steuer wähnen, zappelige kleine Kinder oder sonst eine Behinderung haben, die sie aus der Automibilistengemeinde ausschließt. In der zweiten Klasse ist nicht ein einziger Fahrgast zu finden, der wegen der Schneeberge den fahrbaren Untersatz gewechselt hätte. Zugchef Neumann räumt ein: „Völlig tote Hose.“ Ob das mit dem geplanten Transrapid zwischen Hamburg und Berlin besser wird, dazu möchte keiner der Bundesbahner seine persönlichen Spekulationen preisgeben. Zugbegleiter Elsner hat auf alle drängenden Fragen stets eine Antwort parat: „Mich dürfen sie nicht fragen, ich habe nur Schulbildung dritter Klasse“, lacht er und trällert den Gang hinunter. Er fragt die Reisenden nicht nur nach Fahrkarten, sondern spaßeshalber auch nach „Kontostand und Telefonnummer“.

In den Abteilen kommt trotz des um Gags bemühten Eisenbahners keine Stimmung auf. Eine ältere Frau am Fenster wendet sich lieber den Rehen zu und murmelt, man könne „die alle abschießen“. Es gebe ohnehin zu viele davon. Werden diese Rentner, Studenten, Mütter und andere Mittellose auf die Stelzenbahn umsteigen? Stellen sie die neun bis vierzehn Millionen Fahrgäste jährlich, die zwischen Hanse- und Hauptstadt hin- und herschweben sollen?

Ganz vorn in der ersten Klasse sitzt ein Herr und blättert in einem Bündel Fotokopien. Ein potentieller Kunde für die zukünftigen Transrapidbetreiber? Hat er seinen Wagen stehen gelassen? Zum allerersten Mal? „Ja“, outet sich der Versicherungskaufmann im blaugestreiften Markenoberhemd, der zu einer Tagung will. „Passiert mir so schnell nicht wieder“, ergänzt er und verweist auf seine prallgefüllten Aktentaschen. „Ich bin doch kein Lasttier. Zurück lasse ich mich von einem Kollegen mitnehmen.“

Bahnfahren sei einfach zu umständlich, davon hat sich der Neuling überzeugt, der mitgebrachte Butterstullen verzehrt, anstatt dem traurig dreinblickenden Würstchenverkäufer mit dem Wägelchen zu einer zusätzlichen Einnahme zu verhelfen. Der Geschäftsmann interessiert sich nicht die Bohne für den Transrapid und wendet sich wieder seinen Unterlagen zu.

Am Nachmittag sitzt die 92jährige Tante Hedwig ganz allein vor dem frischgebackenen Apfelkuchen. Daran hätte auch ein schwebender Rapid auf Stelzen nichts ändern können. Paula Roosen