Familienzwist im Hause Rußland

■ Ljudmila Rasumowskajas Chronik „Am Ende der achtziger Jahre“ in Köln

Kain erschlug Abel, aber warum? Weil er Gerechtigkeit wollte. Und was antwortete Kain seinen Eltern nach dem Mord? „Habe ich von euch nicht die Freiheit erhalten, Gut und Böse zu ergründen?“ In Ljudmila Rasumowskajas neuer Version der alten Geschichte schiebt der mißratene Knabe patzig die Schuld zurück auf seine Erzeuger. Freiheit und Gerechtigkeit, die Grundwerte der modernen Gesellschaft, werden zu Argumenten für den Brudermord. Individuelle Schuld ergibt sich aus der tradierten Schuld des Urvaters Adam, lehrt das Dogma der Erbsünde. Wie individuelle Schuld und gesellschaftliche Schuld zusammenhängen, untersucht diese russische Familienchronik.

Das Ergebnis der Analyse ist von Anfang des Stückes an vernichtend: kein Hoffnungsschimmer. Die Sünden der Väter erdrücken Generation auf Generation. Rasumowskaja benutzt die biblische Brudermordgeschichte als Folie für eine Bilanz der gegenwärtigen Lage der russischen Gesellschaft. Großvater Bogoljubow, so alt wie die Oktoberrevolution und Repräsentant des vergangenen sowjetischen Rußland, wird in einer eingeschobenen Traumszene zu Adam mit dem naiv treuen Eva- Weibchen und den mörderischen Söhnen. Aus dem Traum erwacht, sieht er wieder seine beiden Söhne – die Vertreter der schweigenden Generation der nach dem Krieg Geborenen und in der Breschnew- Ära Aufgewachsenen – scheitern. Alexander ist ein nichtsnutziger Säufer, Alexej emigriert nach Amerika und kehrt enttäuscht und todkrank zurück. Der Enkel, Alexanders Sohn Fjodor, bleibt zum Schluß als blinder Afghanistan- Heimkehrer allein auf der Bühne, orientierungslos. Eine folgende Generation gibt es nicht mehr, Fjodors Sohn ist an den Folgen der Herzlosigkeit Bogoljubows gestorben, weil dieser der Mutter die Unterkunft verweigerte.

Ljudmila Rasumowskaja wurde im deutschen Theater bekannt durch ein Stück, das gleichfalls den moralischen Verfall der russischen Gesellschaft zum Thema hatte: Das 1980 geschriebene Schülerdrama „Liebe Jelena Sergejewna“ wurde nach der Erstaufführung in Köln 1989 zum meistinszenierten Stück der folgenden Spielzeit.

Ihr neues, zwischen 1989 und 1991 geschriebenes Stück hat eine weit weniger wirkungsvolle Dramaturgie als ihr vom harmloseren Anfang durch überraschende Wendungen zum katastrophalen Ende rasendes Erfolgswerk. Nun lebt man nach der Katastrophe. Der Verfall der Familie steht vom ersten Auftritt an fest. Daß es immer noch schlimmer kommen muß, sieht jeder der Handelnden und der Zuschauer voraus. Die schwache Handlung läuft locker neben dem Dialog her, in dessen Mittelpunkt die Lage Rußlands beredet wird. Alle Themen der Debatte lassen sich mit griffig ironischen Sentenzen abhaken: die selbstquälerischen Versuche der Vergangenheitsbewältigung („eine ganze Generation wiederkäuender Rindviecher“), der Selbsthaß der Enttäuschung („Für den homo sovieticus habe ich nichts als Klassenhaß übrig.“); der beleidigte Nationalismus („Mehr als Luxemburg sind wir allemal.“), die Sehnsucht nach dem starken Mann („Ein Sechstel der Erde in der Scheiße, und Herakles nicht da.“) und zuletzt noch die Wiedergeburt der Religion aus dem gesellschaftlichen Chaos („Kannst du mir sagen, wieso ich in diesem stinkenden, vermufften, säuischen Land nichtsdestotrotz Gott wittere?“).

Martin Frieds Inszenierung der Uraufführung trennt die Szenen durch russisch gesprochene Radionachrichten zur Lage in Rußland, gesammelt aus den letzten Jahren. Wir erkennen nur die Eigennamen, verstehen nichts. Die Präsentation eines solcherart gesellschaftsanalytischen Stückes im Ausland ist dazu verdammt, zur Bestätigung der Vorurteile eines nur halb verständigen Publikums zu dienen.

Der Amerikaner Fried versucht dem redselig verzweifelten Stück die spritzige Schnelligkeit und den Humor einer angelsächsischen Tragikomödie zu geben. Das bringt Georg Martin als Alkoholiker Alexander in eine günstige Position. Mit seinen zynischen Witzen hat er die Lacher auf seiner Seite. Martin Reinke als Amerika- Heimkehrer Alexej dagegen spielt sich leise, aber intensiv in den Hintergrund. Doch wenn er kurz vor Schluß in den Armen seiner wiedergefundenen Geliebten Solveig als Peer-Gynt-Ersatz seinen nahen Tod verkünden muß, verliert auch er sich im rhetorischen Gestrüpp des Textes. Ernst-August Schepmann als Familienoberhaupt Bogoljubow gelingt es sogar fast, die ihm eigene Bonhomie vergessen zu machen und den Vater der Urschuld als garstigen Grantler zu zeigen.

Die These vom fehlenden sozialen Konsens in Rußland ist bekannt. Daß gesellschaftliche Identitätskrisen zu individuellen führen, wissen wir aus eigener historischer und gegenwärtiger Erfahrung. Ljudmila Rasumowskajas Stück bündelt diese Erkenntnisse zu einem kompakten Paket Hoffnungslosigkeit, das uns auch die zugehörigen Emotionen von Wut und Verzweiflung spüren läßt. Es sollte bald seine eigentlichen Adressaten finden. Nur bei ihnen kann es seine kathartische Funktion erfüllen. Gerhard Preußer

Ljudmila Rasumowskaja: „Am Ende der achtziger Jahre oder: Meine Söhne Kain“. Inszenierung: Martin Fried. Bühne und Kostüme: Jens Kilian. Weitere Vorstellungen: 2., 4., 16., 17., 22.-24., 28.-30. März im Kölner Schauspiel (Schlosserei).