■ Zur strategischen Bedeutung des Tarifkonflikts 1994
: Rückfall oder Reform

Ein Jahrzehnt nach dem Tarifkonflikt um die 35-Stunden-Woche steht die IG Metall, stehen die Gewerkschaften des DGB wieder in einem Konflikt von grundlegender tarif- und gesellschaftspolitischer Bedeutung.

Damals ging es unmittelbar um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung und mittelbar um den Widerstand der Reformkräfte gegen das Roll- back der konservativen Wende. Die damalige Auseinandersetzung hat dazu geführt, Arbeitszeitverkürzung als Instrument gegen Arbeitslosigkeit durchsetzungsfähig zu machen, und sie stabilisierte die Gewerkschaften.

Heute geht es erneut um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und damit auch um eine Richtungsentscheidung, was die Grundmuster der Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik, der Betriebs-, Tarif- und Sozialpolitik anbelangt. Unmittelbar stehen natürlich die Tarifabschlüsse im Vordergrund. Sie sollen Einkommen sichern und verbessern, vor allem aber die Beschäftigungslage stabilisieren und weitere betriebsbedingte Kündigungen ausschließen.

Doch der strategische Stellenwert dieses Konfliktes liegt in der Entscheidung, ob es den Arbeitgeberverbänden gelingt, unter den Bedingungen der Krise und anhaltender Massenarbeitslosigkeit die tarifpolitischen Errungenschaften der achtziger Jahre rückgängig zu machen. Eine Politik, die über ein Jahrzehnt hinweg objektiv versagte, darf nicht nochmals Weichen für die Zukunft stellen.

Arbeitgeberverbände und ihnen nahestehende Politiker glauben nun die geeigneten Rahmenbedingungen zu sehen, um einen grundlegenden Wechsel bei der Regelung der industriellen Beziehungen durchzusetzen. Sie wollen aus verhandelten und vereinbarten Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher und tariflicher Ebene, aber auch im Bereich der Sozialpolitik aussteigen. An ihre Stelle sollen betriebliche und letztlich einzelvertragliche Verabredungen treten, um bei Einsatz und Verwertung der Arbeitskraft nur den „Marktverhältnissen“ Rechnung tragen zu müssen.

Die Gewerkschaften, Ende der achtziger Jahre mit einer breiten Reformperspektive aufgebrochen, stehen natürlich nach der politischen Vereinigung Deutschlands und ihren Folgen für internationale Arbeitsteilung und globalen Wettbewerb vor neuen Herausforderungen. Antworten und Strategien liegen hierfür nicht so schnell auf der Hand.

Arbeitgeberverbände und konservative Politik haben das Ziel, die einzelwirtschaftliche Situation des jeweiligen Betriebs zum alleinigen Maßstab sämtlicher Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen zu machen – und damit ein überbetriebliches gesellschaftliches Sozialgefüge aufzulösen. Mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Unterstützung konservativer Politik soll die gesellschaftliche Spaltung vergrößert und die gewerkschaftliche Gestaltungsmacht verringert werden.

In dieser Tarifauseinandersetzung kämpfen die Gewerkschaften nicht nur um Einkommens- und Beschäftigungssicherung. Sie streiten auch für ein politisches System, das „Erwerbsarbeit für alle“ zum programmatischen und praktischen Ziel der Politik macht. Und sie stehen für eine sozialstaatliche Gestaltung der Bedingungen von Erwerbsarbeit im Interesse der gesamten Gesellschaft.

Vieles hat sich seit 1984 geändert. Massenarbeitslosigkeit ist in einer Größenordnung Realität geworden, die 1984 noch als gewerkschaftliche Schwarzmalerei diffamiert wurde. Die Angriffe der Arbeitgeberverbände haben sich verschärft, und die Bundesregierung hat zumindest in einigen Bereichen das Programm der Deregulierung und größerer „Marktradikalität“ durchgesetzt. Vor allem aber wurde nach dem Streik 1984 gezielt und bewußt durch die Änderung des Paragraghen 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ein Streik für die IG Metall wesentlich erschwert.

Auf der anderen Seite ist – insbesondere nach der VW-Regelung – die Arbeitszeitverkürzung und nicht die Verlängerung der Arbeitszeit erneut zu einem entscheidenden Instrument bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit geworden. Die gewerkschaftliche Position zum vollen Lohnausgleich und zur zwingenden Arbeitszeitverkürzung für alle wurde weiterentwickelt.

Aber zwei Punkte kommen für die IG Metall nicht in Frage: die Arbeitszeit zu verlängern und die normalen Tariflöhne und -gehälter abzusenken, weil beides die Krise verschärfen und die Massenarbeitslosigkeit erhöhen würde. Über Arbeitszeitverlängerung und Lohn- und Gehaltskürzung hinaus wollen aber die Arbeitgeberverbände den Flächentarifvertrag als Mindestbedingung prinzipiell in Frage stellen. Allein die Weltmarktlage soll Einkommen, Arbeits- und Lebenssituation der Beschäftigten direkt beeinflussen. Es gäbe keinen Schutz mehr vor dem Auf und Ab der Konjunktur oder vor den Irrationalitäten von Krisenprozessen.

Nicht nur die Arbeitgeberverbände, sondern auch die derzeitige Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit greifen überbetrieblich ausgehandelte Verträge als Grundlage der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen an, wie etwa bei dem Paragraphen 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes. Der autoritäre Dirigismus staatlicher Entscheidungen und Unternehmerwillkür sollen an die Stelle des Verhandlungsmodells und des ausgehandelten Kompromisses treten.

Dies bezeichnet genau den Kern der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzung und auch ihre strategische Reichweite: Es geht um die Zukunft der Konfliktpartnerschaft. Dabei wissen die Gewerkschaften natürlich, daß die veränderten Rahmenbedingungen von wirtschaftlicher und sozialstruktureller Entwicklung Erneuerungen des Tarifsystems und vor allem der Tarifverträge nötig machen.

Konzepte zur inhaltlichen Neugestaltung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen, die der Abkehr vom Taylorismus und den neuen Chancen für qualifizierte und attraktive Arbeit Rechnung tragen, liegen von seiten der Gewerkschaften längst auf dem Tisch, zum Beispiel mit der „Tarifreform 2000“ der IG Metall.

Gewerkschaften haben darüber hinaus – gerade nach der Vereinigung – industriepolitische Konzepte und arbeitsmarktpolitische Strategien der sozialen und ökologischen Erneuerung vorgeschlagen, die zusammen mit Fortschritten bei der Verkürzung und Gestaltung der Arbeitszeit in der Tat geeignet wären, einen neuen Anlauf zu versuchen, um Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen und Vollbeschäftigung zu erringen.

Gewerkschaften haben nicht erst jetzt entdeckt, daß „Arbeitslose mit am Verhandlungstisch sitzen“. Gerade die Politik der Arbeitszeitverkürzung und die Abwehr weiterer Senkung der Massenkaufkraft durch Einkommenskürzungen tragen den Arbeitslosen ebenso Rechnung wie den noch-beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Sicherung der Masseneinkommen und der Widerstand gegen Arbeitszeitverlängerungen richten sich doch gerade dagegen, daß die Nachfrage weiter sinkt und die Arbeitslosigkeit weiter steigt!

Unsere tarifpolitischen Forderungen und Vorstellungen sind dabei eingebettet in eine gesellschafts- und wirtschaftspolitische Gesamtstrategie, die auf den Kern einer solidarischen Gesellschaft zielt und mehr Verteilungsgerechtigkeit durchsetzen will.

Die Konzepte der konservativen Politik, wie etwa das jüngst verabschiedete Programm „Wachstum und Beschäftigung“, werden in der Öffentlichkeit genausowenig ernst genommen wie die Vorstellung der Metall-Arbeitgeberverbände über eine nominale Senkung der Tarifeinkommen. Es sind die Gewerkschaften, es sind in diesem konkreten Fall die Mitglieder der IG Metall, die die Last der Abwehr eines solchen sozial- und beschäftigungspolitischen Katastrophenkurses zu tragen haben.

Die Tarifauseinandersetzung 1994 ist auch eine Auseinandersetzung um die sozialstaatliche Substanz und – im Blick auf die Europäische Union – auch um die europäische Zukunft für ein Modell zur Gestaltung der sozialen und industriellen Beziehungen, das flächendeckend gleiche Grundnormen verhandelt und durchsetzt, auf deren Grundlage vielfältige Differenzierungen möglich sind. Individualität – nicht Vereinzelung und Isolierung – wird erst möglich, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht Spielball wirtschaftlicher Entscheidungen sind, sondern sich in sozial, ökonomisch und ökologisch verläßlichen Rahmenbedingungen entfalten können.

Gewerkschaften haben sehr wohl Perspektiven der industriellen, sozialen und der ökologischen Erneuerung der Gesellschaft. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung geht es nicht zuletzt auch um die Frage anderer politischer Rahmenbedingungen, die auch den Gewerkschaften bessere Chancen geben, sich nicht nur in Abwehrkämpfen engagieren zu müssen, sondern ihre Reformperspektiven von Ende der achtziger Jahre und die Gestaltungskonzepte von Anfang der neunziger Jahre wieder verstärkt aufgreifen zu können.

Der Ausgang der jetzigen Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie, aber auch im öffentlichen Dienst und in den anderen Wirtschaftsbereichen kann somit mit darüber entscheiden, ob das Jahrzehnt konservativer Politik und zeitweiser Hegemonie zu Ende geht und die Chancen für eine soziale und ökologische Reformperspektive in Deutschland und Europa verbessert werden. Reinhard Kuhlmann/Klaus Lang

Mitglieder des IG-Metall-Vorstands,

Abteilung Grundsatz