Außerirdisch und gestört

■ Susan Sontags „Baby“ vom Thalia-Theater in der Heinrich-Heine-Villa uraufgeführt

„Baby“ ist erklärtermaßen „das Problem“. Ein arg frühreifes Kind offenbar, das mal mit fünf eine Schachtel Kondome neben dem Bett liegen läßt, mal im zarten Alter von acht Jahren Schopenhauer liest, mal postpubertär ins Gitterbett pißt und ein anderes mal volljährig zum Alkoholismus neigt. „Baby“, soviel ist nach einem angeblichen Kindsmord und eineinviertel tatsächlichen Aufführungsstunden in der Heinrich-Heine-Villa klar, gibt es wahrscheinlich gar nicht. „Baby“ ist die Erfindung seiner vermeintlichen Eltern, die Projektionsfigur zweier mit- und aneinander scheiternden Durchschnittsexistenzen. „Baby“ ist ein Medium: zwischen Ihm, Ihr und beider Psychiater. Denn die ganze Veranstaltung spielt in, neben und vor den Patientensesseln eines Seelenklempners.

Die angesehene New Yorker Autorin Susan Sontag, zuletzt als Regisseurin und Selbst-Dokumentatorin eines „Warten-auf-Godot“-Projekts im belagerten Sarajevo eher unangenehm aufgefallen, veröffentlichte 1978 in ihrem Buch „Ich, etc.“ die Erzählung „Baby“, eine - so charakterisieren jetzt die Uraufführer des Textes - „nach Wochentagen geordnete Serie von Repliken ohne Personenzuschreibung“. Darin geht es um eine eben nie genau festgelegte Figur, an der sich Sucht und Sehnsucht, Freud und vor allem unsägliches Leid der Elternfigur(en) entlangschlängeln und entladen.

„Baby“ ist ein Genie, unsterblich, ungewollt, beinahe abgetrieben; ein Außerirdischer, ein Geistesgestörter; er sammelt alles, brät sich die Patschhände in der Mikrowelle und lacht nachts um punkt vier im Schlaf laut auf. Schließlich müssen Mama(?) und Papa(?) ein bißchen an ihm rumamputieren, weil er doch immer an sich herumspielt und ständig weglaufen will. Am Ende hätten sie ihn dann umgebracht. Sagen sie.

In dem kleinen, nur 37 Zuschauer fassenden Sälchen am Harvestehuder Weg, in dem Daniel Tharau für das Thalia-Theater den Text urinszenierte, sitzen dem imaginären Onkel Analytiker und dem realen, aber intimen Auditorium die Darsteller Edgar Bessen und Angelika Thomas gegenüber und geben sich die allergrößte Mühe, ihr zunächst ganz realistisches Doktorspiel in eine Art selbstdenunziatorischen Spießerexzeß ausarten zu lassen.

„Baby“ selbst taucht natürlich nicht auf; wohl aber sein Inventar: Früchte seiner Sammelleidenschaft in Aktenbergen, diverse Archivkartons im Eckschrank; sogar ein Familienfotoalbum. Wie zu immer neuen Therapiesitzungen treten die beiden Akteure in immer neuen Alltagskostümen ein. Schließlich zieht sich Edgar Bessen die Schuhe aus und greift immer wieder an eine Schiebetür, während Angelika Thomas sich den Lippenstift verschmiert, mit Indianergeheul durch die Villa rennt und im übrigen Cola und Kartoffelchips in sich hineinfrißt. Amerika halt.

Doch das alles ist ziemlich ungefährlich, unverständlich, unglaubwürdig, langweilig und überflüssig. Natürlich ist daran wieder keiner so richtig schuld, weil ja der Text ach so schwer, der Regisseur ach so jung und die Schauspieler ach so alleingelassen sind.

Theater: warum? Und wieder keine Antwort.

Matthias Pees