Ein lächelndes Einverständnis

■ "Flächenbeschreibung" von Matthias Wittekindt / Brüssel-Projekt im Künstlerhaus Bethanien

März 1990, irgendwo im Lauenburgischen: die deutsch-deutsche Grenze ist entschärft, die Mauer gefallen, und im Altwasser der Elbe ist plötzlich die Leiche eines Soldaten aufgetaucht. Zwei Männer versuchen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Der eine (Johannes Hupka), Wissenschaftler und Angestellter eines ominösen „Instituts“, hat den Unbekannten als letzter lebend gesehen, der andere (John Lambert), ein britischer Militärpolizist, hat den Toten im seichten Wasser entdeckt. Soviel ist klar.

Gar nichts ist klar. „Flächenbeschreibung“ von Matthias Wittekindt bietet keinen Halt. Da sind zunächst die „Protokolle“. Die beiden Akteure, die der Tote zufällig zusammengeführt hat, sitzen an zwei kleinen Tischen und reden nebeneinanderher. Der Wissenschaftler stammelt etwas von dem „betreffenden Abend“, von der Dämmerung, in der er das Opfer „übers Eis“ hat gehen sehen. Der Engländer hakt die Eckdaten seiner Biographie ab, spricht dann von den „Moorfröschen“, die ihren Laich zwischen die Oberschenkel des Toten gelegt haben. Erzählt von dessen Körperhaltung, die darauf schließen läßt, daß sein Becken gebrochen wurde, und räsoniert über das Geräusch, das man hört, wenn Knochen zerbersten. Nach zehn Minuten nehmen sie sich das erste Mal wahr – lächelndes, stummes Einverständnis. Szenenwechsel: das Büro des Wissenschaftlers. Eine Art Verhör beginnt. Und langsam, aber sicher schleichen sich in die unverbindlichen Höflichkeitsfloskeln erste Ungereimtheiten ein. Erinnerung erscheint wie ein Film: „Ununterbrochen tauchen neue Stämme auf, während sich andere links und rechts aus dem Bild schieben. Plötzlich ist das Bild überbelichtet, um mindestens drei Blenden. Man sieht nur noch Schattierungen, Kratzer und vertikale, hellgraue Streifen. Alles wackelt...“ Die Erzählung fängt an, sich im Kreis zu drehen. Man unterbricht sich, wiederholt sich. Sprache rotiert ins Absurde, wird in einer nicht näher greifbaren Dynamik dekonstruiert. Die Bühne (Vera Dobroschke) wird zum Labyrinth, in dem sich die verschiedensten Realitätsebenen vermischen. In ihrer Künstlichkeit vielfach gebrochene Kommunikation, reale Begebenheiten und gedankliche Sentenzen ergeben einen unentwirrbaren Knoten: Authentizität – es gibt sie nicht. Einzelne Szenen und Textfragmente schließen sich zusammen zu einem collagenartigen Ganzen. Johannes Hupka als bedächtig, ein wenig betulich und verträumt, insgesamt aufreizend langsam agierender Wissenschaftler und John Lambert als ewig fröhlicher, grausam jovialer Militär beginnen stockend, fast verklemmt. Doch die Kreise schließen sich. Immer rasanter steuert die Fahrt ins Sinnlose. Das eigentliche Thema, der Tote und die Rekonstruktion seines Schicksals, gerät immer mehr in den Hintergrund. „Flächenbeschreibung“ wird zur offenen Zweierbeziehung, deren Groteske sich durch die wenigen rationalen Einsprengsel – mal kochen die beiden Kaffee oder machen Brotzeit – nur noch verstärkt. Auf der mit gläsernen Paravents verstellten Bühne werden die Schauspieler zu Marionetten. Natürlichkeit wird zur Choreografie, die Geste zum Symbol, das Bühnengeschehen wie die Standfotografien eines Films zum Bild an sich. Mal ist die Beleuchtung klar und sachlich, dann wieder düster expressiv, als seien die Kontrahenten in einen Stummfilm der 20er Jahre gerutscht. Eine Kakophonie der alltäglichen Mißverständnisse. Sie sprechen die gleiche Sprache, aber verstehen werden sie sich nie. Finale. Applaus. Ulrich Clewing

Künstlerhaus Bethanien, 3.–13. März, jeweils Donnerstag bis Sonntag, 20 Uhr, 18. März–3. April Theater am Ufer, Mittwoch bis Sonntag, jeweils 20 Uhr.