„Charakterkrise“

UEFA-Cup-Hinspiel: Borussia Dortmund – Inter Mailand 1:3 / BVB-Welt aus dem Lot  ■ Aus Dortmund Freddie Röckenhaus

Kein Schlager ist so vielseitig zum gesungenen Kurzkommentar von Fußballspielen geeignet wie das gute alte „Guantanamera“, bekannt aus Funk und Fernsehen und von Alleinunterhaltern auf Hammondorgeln dargeboten. Am Dienstag abend hat es Dortmunds Südtribüne mit dem anspruchsvollen Text „Noch mehr Millionen, wir wollen noch mehr Millionen“ versehen. Borussia-Manager Michael Meier, Diplom-Volkswirt und in Gelddingen erfahren, meinte nach dem Abpfiff lakonisch: „Die Zuschauer haben alles zu diesem Spiel gesagt – dem habe ich nichts hinzuzufügen.“ Das deprimierende 1:3-Ergebnis der Dortmunder gegen das auch nur biedere Inter Mailand, das fast sichere Aus im UEFA-Pokal-Viertelfinale – all das schlug der schwer geprüften Dortmunder Großfamilie dabei immer noch weniger auf die Stimmung als die desolate, zerrüttete Vorstellung ihres mehr denn je zerstrittenen Starensembles.

Die Dortmunder Ratlosigkeit ist komplett, die Stimmung offenbar kurz vor dem Umkippen. Nach der für Dortmund blamablen Partie, durch zwei Tore des Holländers Jonk (33./38.) früh vorentschieden (Schulz, 83., und Schalimow, 88., trafen außerdem), mußte sich der nervlich diesmal sichtlich angeschlagene Trainer Ottmar Hitzfeld zum ersten Mal aggressive Fragen gefallen lassen. Hitzfeld hatte ausgerechnet Publikums-Darling Flemming Povlsen nicht auflaufen lassen, obwohl der kämpferische Däne als Matchwinner gegen Leverkusen gefeiert wurde und bei der anschließenden BVB-Katastrophe in Dresden wegen Gelbsperre nicht dabei war und seine Füße deshalb in Unschuld waschen konnte. Povlsen kam dann zur Pause doch, für den von Hitzfeld trotz nicht überstandener Grippe nominierten Zorc, dessen direkter Gegenspieler Jonk, sträflich alleingelassen, zwei Tore erzielt hatte. Doch ließ sich der trotzköpfige Held Povlsen geradezu demonstrativ hängen und verrichtete eine Art Dienst nach Vorschrift. Hitzfeld konterte, in nicht minder kleinkariertem Stil, Povlsen habe auch schon gegen Bröndby Kopenhagen (das ist Monate her) schlecht gespielt, und seine Leistung in der zweiten Halbzeit habe gerechtfertigt, daß er nicht von Anfang an dabei gewesen sei.

Über den Gemütszustand der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft BVB sagt diese traurige Komödie einiges aus – wohl weniger über die wahren Ursachen der Dortmunder Pleite an diesem vorerst letzten UEFA-Cup-Abend im ausverkauften Westfalenstadion. Die 36.000 Zuschauer haben längst mit feinem Gespür mitbekommen, daß das Geld, so banal es klingen mag, der Grund für die dramatische Zerstrittenheit der Mannschaft ist. Matthias Sammer, engagiertester und bester Dortmunder, kochte nach dem Spiel vor Wut und behielt nur mit Mühe die Contenance gegenüber seinen Mannschaftskameraden.

Schon im vergangenen Herbst waren die ersten Risse beim BVB gesichtet worden. Spieler wie Michael Schulz, mit geschätzten 800.000 Mark Jahresgehalt nicht gerade unterprivilegiert, sollen es seither nicht verwinden können, daß Dortmunds Italien-Heimkehrer noch einmal 200.000 bis 400.000 Mark mehr verdienen. Zumindest im Falle Reuter und Riedle bislang ohne erkennbare Gegenleistung.

Des Trainers Aufgabe wird es in dieser „Charakterkrise“ (O-Ton Sammer) sein, die schwelenden Konflikte durch Maßnahmen mit Signalwirkung zu bekämpfen. Doch spätestens nach dem zweiten Pils hatte man am Dienstag abend in Dortmund sämtliche Alternativen durchdiskutiert – mit dem Ergebnis, daß der Trainer nur wenig anders machen könnte. Selbst die sonst so schnell zu Sündenböcken gemachten Neuen, Riedle und Freund, gehörten nicht zu den Allerschlechtesten in einer Mannschaft ohne Organisation, Disziplin, Konzentration und Herz.

Allmählich spricht kaum noch jemand in Dortmund über die (immer noch) nur vier Punkte Rückstand zum Bundesliga-Tabellenführer München. Man erkundigt sich nach den Punktekonten von Wattenscheid und Leipzig. Wohltuende Ruhe verströmt in dieser Kakophonie der Enttäuschung immer noch Präsident Gerd Niebaum: „Viele bei uns haben nach dem UEFA-Cup-Finale gemeint, in Zukunft seien sie europäische Spitze und könnten den Ball laufen lassen. Irgendwann werden sie begreifen, daß sie wieder selbst laufen müssen. Kann sein, daß das ein ganzes Jahr dauert. Das halten wir durch, nervlich. Und finanziell sowieso.“ Soll heißen: Nach Otto Rehhagel ist Ottmar Hitzfeld der am wenigsten gefährdete Trainer der Bundesliga. Das immerhin hatte Stil.